1 ...6 7 8 10 11 12 ...23 Wir wurden durch ein lautes Klopfen an der Tür geweckt. Oma sprang sofort aus ihrem Bett und ging zur Tür. Nach zwei Schritten bemerkte sie, dass sie nackt war, machte eine Kehrtwendung und ging auf den Ofen zu, um den sie alle Stühle gestellt hatte. Auf diese hatte sie unsere frisch gewaschenen Klamotten, die wir am Leib getragen hatten, zum Trocknen gelegt. Diese muss sie wohl noch in der Nacht in der Badewanne alle durchgewaschen haben.
Schnell schlüpfte sie in ihre bereits getrocknete Unterwäsche, dann stülpte sie ihr Kleid über den Kopf, fuhr sich mit beiden Händen noch schnell einige Male durch die Haare und ging zu Tür. Ehe sie den Schlüssel zum Öffnen drehte, rief sie: „Wer ist da?“ Sofort kam die Antwort: „Wir sind‘s, Frau Meindl mit Tochter.“ Oma drehte den Schlüssel herum und öffnete die Tür. Im nächsten Moment standen die beiden Frauen von gestern in unserem Schlaf-Wohnraum. Beide trugen auf ihren Armen, bis unters Kinn, einen Stapel mit Kleidungsstücken. Diesen legten sie auf dem Tisch ab. Dann gingen sie noch einmal hinaus. Einen Moment später kamen sie wieder herein, genauso bepackt wie beim ersten Mal. Aber sie gingen noch einmal hinaus. Nun kam die jüngere der beiden zuerst wieder herein. Beinahe fröhlich sagte sie: „Kinder, wir haben euch wieder etwas zu essen mitgebracht. Hoffentlich mögt ihr Haferschleimsuppe?“ Dann stellte sie die Milchkanne auf den warmen Ofen.
Einen Moment später kam auch Frau Meindl wieder herein. Auch dieses Mal hatte sie wieder einen Stapel Textilien auf dem Arm. Mit diesem ging sie direkt auf Oma zu und sagte: „Hier, das ist für Sie. Da wir in etwa die gleiche Figur und Größe haben, müssten Ihnen die Sachen auch passen. Es ist alles gebrauchtes Zeug, das ich aufgehoben habe. Und da ich sowieso nichts wegwerfen kann, und das gilt nicht nur für meine Sachen, sondern eigentlich für alles, bin ich froh, Ihnen mit diesen alten, aber noch guten Sachen helfen zu können. Draußen haben wir auch noch einige Gebrauchsgegenstände, die wir Ihnen noch reinholen werden.“
Sich meiner Oma direkt zuwendend, sagte sie: „Bitte helfen Sie uns, die Sachen, welche noch draußen im Wagen sind, hereinzuholen. Dann sollten wir die Kinder anziehen und ihnen was zu essen geben. Wenn alle satt sind, können wir zu mir gehen, um zu sehen, was mit Ihrer Tochter ist und ob das Baby schon da ist. Seit heute Morgen funktioniert mein Telefon wieder. Ich habe gleich in Erfahrung bringen können, dass Ihre Tochter tatsächlich im Elisabeth-Stift liegt und dass es ihr unter den gegebenen Umständen gut geht. Aber während ich mit dem Krankenhaus telefonierte, wurde die Verbindung plötzlich unterbrochen. So kann ich Ihnen leider nicht sagen, was mit dem Baby ist. Mein Schwiegersohn will sich aber, sobald er mit den Operationen fertig ist, persönlich um Ihre Tochter kümmern. Er hat es mir fest versprochen! Kommen Sie, wir holen jetzt die anderen Sachen rein.“
Oma ging mit Frau Meindl vor die Tür. Kurze Zeit später kamen sie mit einem großen Karton wieder herein. Sie stellten den Karton auf den Fußboden. Dann begann Frau Meindl, den Karton auszupacken. Hervor kam so ziemlich alles, was man in einem Haushalt braucht. Von Kochtöpfen über Geschirr bis hin zu Klopapier. Die jüngere der beiden Frauen wickelte Rita aus ihrer Decke. Sie redete beruhigend auf sie ein, suchte dann aus dem Stapel ein paar passende Sachen heraus und zog ihr diese an. Wir älteren wurden von Oma aufgefordert, auch aufzustehen und uns anzuziehen. Dabei halfen uns Oma wie auch die beiden Frauen, die mir gar nicht mehr so fremd vorkamen. Als für alle die passenden Sachen gefunden waren, zogen wir uns selber an. Dann forderte uns Oma auf, am Tisch Platz zu nehmen. Vorher hatte sie die übrig gebliebenen Sachen vom Tisch genommen und auf eines der Betten gelegt.
Die jüngere der beiden Frauen, also Frau Laubig, nahm nun die Tassen, aus denen wir gestern die Hühnersuppe gegessen hatten, vom Tisch, stellte sie auf den Ofen neben die Milchkanne und füllte diese mit einer mitgebrachten Suppenkelle mit der Haferschleimsuppe. Als alle Tassen gefüllt waren, gab sie jedem von uns eine Tasse. Wir Kinder tranken die Suppe direkt aus der Tasse. Oma suchte sich einen Löffel aus dem Karton und löffelte diese. Die beiden Damen hatten sich derweilen auf eines der Betten gesetzt und schauten uns schweigend zu.
Oma saß den beiden direkt gegenüber und ihr Blick wanderte von einer zur anderen. Es war still im Raum geworden. Ab und zu hörte man ein schmatzendes Geräusch, das von einem von uns Kindern kam und nebenbei knisterte das Holz im Ofen. Diesen hatte Oma wohl schon am Morgen angeheizt. Die Atmosphäre war als durchaus gemütlich zu bezeichnen, zu welcher die Wärme des Ofens erheblich beitrug.
In diese Stille hinein hörte ich Oma fragen: „Liebe Frau Meindl, liebe Frau Laubig, warum tun Sie das alles für uns? Sie haben selber die allergrößten Sorgen um Ihren Mann und Schwiegersohn, wissen nicht, ob dieser noch lebt. Möglicherweise haben Sie noch viel mehr Kummer und Sorgen. Ich wünschte, ich könnte nur einen Teil davon wieder gutmachen. Da das aber sehr unwahrscheinlich ist, bitte ich den lieben Gott, er möge Ihnen das alles vergelten. Vor allem möge er Ihnen, liebe Frau Laubig, Ihren Mann recht bald gesund wiederbringen.“
„Schon gut, schon gut“, sagte Frau Meindl. „Wir haben uns gestern nur einen Moment in Ihre Lage versetzt. Da wussten wir, was wir zu tun hatten. Eine Großmutter mit fünf kleinen Kindern, die zusammen mit ihrer hochschwangeren Tochter auf der Flucht vor den Russen durch die Hölle gegangen ist. Da braucht man nicht viel Fantasie, um zu wissen, dass da Hilfe von Nöten ist. Außerdem lenkt uns beide das ein wenig von unseren eigenen Sorgen ab. Aber nun genug davon. Jetzt müssen wir uns dringend um Ihre Tochter und den eventuellen Nachwuchs kümmern. Ich schlage vor, dass meine Tochter hier bleibt und auf ihre Enkelkinder aufpasst.“ Sie überlegte kurz und fuhr dann fort: „Sie und ich gehen derweil zu uns rüber und versuchen zunächst über das Telefon zu erfahren, wie es Ihrer Tochter geht und ob das Baby schon da ist. Auf alle Fälle werden wir dann, so oder so, ins Krankenhaus gehen, um nach ihr zu sehen. Sollte es irgendwelche Probleme geben, wird uns mein Schwiegersohn sicher weiterhelfen. Da fällt mir gerade ein, Ihre Tochter hat ja nichts für das Baby zum Anziehen. Deshalb müssen wir noch schnell ein paar Babysachen von meinem Boden holen. Sicher finden wir da von meinen drei Enkelkindern noch genügend, um den neuen Erdenbürger einzukleiden. Kommen Sie, wir müssen jetzt gehen.“
Oma stand auf und wandte sich uns Kindern zu: „Bitte seid artig und gehorcht Frau Laubig. Ihr seid hier in Sicherheit. Ich muss mich nun um eure Mama kümmern. Hoffentlich ist mit ihr alles in Ordnung!“ Danach verließen die beiden alten Damen das Haus.
Es war so gegen Mittag und es sollte Abend werden, bevor sie wiederkamen. In der Zwischenzeit beschäftigte uns Frau Laubig. Soweit ich das noch in Erinnerung habe, tat sie das mit sehr viel Einfühlungsvermögen. Beginnend mit meiner Schwester Brigitte, wandte sie sich jedem einzelnen von uns zu, indem sie uns nach unseren Namen fragte. Wie alt wir sind? Was für Spiele wir am liebsten hätten? Ihr kam es wohl darauf an, das Eis zwischen uns und ihr zu brechen, was ihr hervorragend gelang. Dann las sie aus einem mitgebrachten Märchenbuch vor, wobei ich einschlief. Ich wurde erst wieder wach, als es in unserem Raum wieder lauter wurde.
Als ich die Augen wieder öffnete, kamen Oma und Frau Meindl gerade durch die Tür. Irgendwie hatte ich sofort das Gefühl, dass mit Mama alles gut gegangen war. Auch wenn Oma sehr müde aussah, leuchteten ihre Augen. Für mich ein untrügliches Zeichen, dass es Mama gut ging. Und tatsächlich, als beide Frauen Platz genommen hatten, ergriff Oma als erste das Wort: „Kinder, eurer Mama geht es gut! Sie hat euch heute Morgen so gegen acht Uhr ein Brüderchen geboren. Beiden geht es den äußerst schwierigen Umständen entsprechend gut. Ich soll euch alle von eurer Mama ganz liebe Grüße ausrichten. In ein paar Tagen ist sie mit dem Baby wieder bei uns. Die liebe Frau Meindl hat für das Baby viele schöne Sachen gefunden und eurer Mama mitgenommen, unter anderem zwei schöne und warme Nachthemden. Natürlich hatte sie sich seit unserer gestrigen Trennung große Sorgen um uns gemacht. Umso glücklicher ist sie, zu wissen, dass wir hier bei Frau Meindl so gut untergekommen sind und dass die beiden Damen uns so unglaublich helfen.“ Plötzlich stand sie auf, ging um den Tisch, nahm die Hand von Frau Laubig und drückte diese ganz fest und sehr lange. Danach ging sie auf Frau Meindl zu, die von ihrem Stuhl aufgestanden war, nahm sie spontan in die Arme und drückte diese ganz fest an ihre Brust. Weinend sagte sie immer wieder: „Danke, danke, danke. Was wäre wohl ohne Ihre Hilfe und Zuneigung aus uns geworden?“
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