„Oh ja, Mutter und Kind sind wohl auf. Frau Gojny ist eine tapfere und starke Frau. Wir hatten bei der Entbindung überhaupt keine Probleme mit ihr. Nur, wir haben für das Baby überhaupt nichts anzuziehen“, antwortete Oberschwester Hildegard.
Frau Laubig, die schon die ganze Zeit die Tasche mit der Babywäsche getragen hatte, hob diese etwas an und sagte: „Hier, Oberschwester, hier haben wir alles, was Sie für das Baby brauchen.“
„Großartig!“, sagte die Oberschwester. „Dann mal los, gehen wir rein.“ Vorsichtig öffnete sie die Tür. Dann bat sie zunächst Oma und dann uns Kinder herein. Wir betraten einen schmalen, dunklen Raum. Das Bett stand mit dem Kopfende direkt unter einem schmalen, aber hohen Fenster. Zwischen Wand und Bett war gerade noch so viel Platz, dass der Nachttisch neben dem Bett stehen konnte.
Oma ging zuerst zu unserer Mama, fasste sie an den Schultern, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und drückte das Gesicht unserer Mutter an ihre Brust. Dann fingen beide an zu weinen. In der Kammer war es ganz still. Mutter fand zuerst ihre Fassung wieder. Sie richtete sich etwas auf, so dass sie über das Fußende ihres Bettes blicken konnte und so uns Kinder sah, zumal meine kleine Schwester Rita und ich direkt hinter Oma an der Seite des Bettes standen.
„Mutter, Kinder, was bin ich froh, euch alle hier gesund und munter zu sehen. Ich kann es noch gar nicht fassen. Kommt alle her, lasst euch drücken und seht euch euer Brüderchen an“, forderte Mutter uns auf. Oma hob dann die kleine Rita auf die Bettkante. Mutter gab ihr einen Kuss auf die Wange, dann hielt sie ihr das Baby entgegen. Rita streichelte es über das Köpfchen. Das Baby merkte von alldem gar nichts, es schlief tief und fest. Dann durfte einer nach dem anderen von uns Kindern Mama und das Brüderchen begrüßen. Oma stand derweil ganz oben am Kopfende des Bettes und streichelte unserer Mutter unentwegt über den Kopf. Als unsere älteste Schwester Brigitte als letzte von uns Kindern dran war, fragte Mama: „Kinder, wie soll nun euer neues Brüderchen heißen?“ Wie aus einem Mund schallte es durch den kleinen Raum „Gerhard!“
Mutter, die über diese Einigkeit sehr verwundert war, konnte ja nicht wissen, dass wir kurz vorher darüber abgestimmt hatten. Auf alle Fälle war sie hoch erfreut darüber, dass wir alle in seltener Einmütigkeit den Namen unseres vermissten Vaters unserem kleinen neuen Brüderchen übertragen wollten. Ob nun vor Freude über die Einmütigkeit bei der Namensgebung oder aus Angst um unseren Vater, von dem wir ja nicht einmal wussten, ob er überhaupt noch lebte, kullerten Mama Tränen über ihr sehr blasses Gesicht.
„Ich bin ja so froh, dass wir die Flucht überlebt haben, dass wir alle zusammen geblieben sind und dass die Entbindung auf so wunderbare Weise ein so gutes Ende genommen hat“, verkündigte sie. Sie nahm ein Stück Zellstoff vom Nachttisch und wischte sich die Tränen aus ihren Augen. Dann hob sie ihren Kopf, blickte über uns Kinder hinweg, sah zunächst Frau Meindl und dann der jüngeren Frau Laubig in die Augen: „Und Sie sind also die neuen Schutzengel meiner Familie?“
Frau Meindl sah Mutter mit festem Blick an und fragte ihrerseits: „Wenn Sie so wollen ja, aber woher wissen Sie das?“
„Oh, das hat mir vor einer knappen Stunde ein sehr netter und sympathischer Arzt hier erzählt. Sein Name ist Dr. Meindl. Er sagte, dass ich mir um meine Familie keine Sorgen machen soll und dass ihr vorerst in dem Gästehaus seiner Familie untergekommen seid. Seine Mutter und seine Schwester würden sich um euch kümmern. Dann sagte er weiter, dass er auf Bitten seiner Mutter hier sei und er veranlasst habe, dass ich jetzt hier in dieser, zugegebenermaßen engen und düsteren, Kammer untergekommen sei. Aber dass ich hier mit meinem Baby alleine wäre, ohne Gestank und ohne den Lärm, der da draußen auf den Gängen überall vorherrscht. Er hatte leider nicht viel Zeit. Ehe ich mich richtig bei ihm bedanken konnte, war er auch schon wieder weg. In der Tür sagte er noch, dass er morgen wieder nach mir sehen würde“, gab Mutter seine Worte wieder.
Frau Meindl und Frau Laubig, die die ganze Zeit über an der Tür stehen geblieben waren und schweigend und ergriffen die ganze Begrüßung mit angesehen hatten, kamen nun auch nach vorne ans Bett meiner Mutter, die ihnen sehr lange und sehr herzlich die Hand schüttelte. Frau Laubig legte die Tasche mit den Babysachen auf Mutters Bett und sagte: „Hier, liebe Frau Gojny, statt Blumen, die man sowieso nirgends bekommen kann, von meiner Mutter und mir, verbunden mit den herzlichsten Glückwünschen, die erste Babyausstattung. Es sind alles gebrauchte, aber noch recht gut erhaltene Stücke von unseren Nichten und Neffen. Mutter konnte sich nie davon trennen. Jetzt wissen wir warum und wofür.“
Mama ergriff noch einmal die Hand von Frau Laubig, presste diese an ihre Lippen und schluchzend sagt sie: „Vergelte es Ihnen der liebe Gott.“
Dann öffnete sie mit der rechten Hand die Tasche. Obenauf lag eine kleine blaue Mütze, die sie sofort unserem kleinen Brüderchen Gerhard aufsetzte. Später zog sie ihn dann ganz an. In der Zwischenzeit war unser kleiner Bruder wach geworden. Lautstark fing er an zu weinen. Mama öffnete ihr Nachthemd und legte das Baby an ihre Brust. Alle Anwesenden sahen ergriffen dabei zu und selbst wir Kinder waren sehr still geworden.
In diese Stille hinein hörte ich Frau Meindl sagen: „Ihr Lieben, ich will ja nicht stören und euch schon gar nicht auseinander reißen, aber wir müssen uns dringend um die Lebensmittelkarten kümmern, ohne die wir nichts zu essen bekommen können.“
„Natürlich, Sie haben Recht!“, sagte Oma. Zu unserer Mutter gewandt sagte sie: „Lenchen, du hast gehört, wir müssen jetzt los. Aber ich komme heute noch einmal wieder. Dann können wir über alles Weitere reden. Den Weg kenne ich ja nun. Die Oberschwester will ich ohnehin noch fragen, wann du und das Baby zu uns dürfen. Also, Lenchen, bis heute Nachmittag. Wann, weiß ich natürlich nicht so genau, aber kommen werde ich ganz gewiss.“
Dann verabschiedeten sich Frau Laubig und Frau Meindl und nacheinander wir Kinder. Mama gab jedem von uns noch einen dicken Kuss auf die Stirn. Ich weiß noch heute, wie schwer es uns gefallen war, wieder voneinander Abschied nehmen zu müssen. Als ich noch einmal zurückschaute, sah ich, dass auch Mama wieder Tränen in den Augen hatte. Nacheinander verließen wir Mamas Kammer. Frau Meindl vorne weg und zum Schluss Oma. Auf dem Flur nahm ich wieder diesen unglaublichen Gestank von Äther war. Sofort wurde mir wieder übel.
Auf dem Flur stoppte Frau Meindl wieder vor dem Stationszimmer, wo die Oberschwester auch tatsächlich anwesend war. Oma fragte sie: „Entschuldigen Sie, Schwester, kann ich schon erfahren, wann meine Tochter und ihr Baby zu uns dürfen?“
Die Schwester schaute zu Oma auf und antwortete mit freundlicher Stimme: „Wenn keinerlei Komplikationen mehr auftreten, denke ich, wird sie morgen vom Chef entlassen werden. Da sie hier bei uns völlig ausgehungert und sehr schwach eingeliefert wurde, müssten Sie versuchen, ihrer Tochter eine nahrungsreiche Kost zu besorgen. Ach ja, ein Transportmittel brauchen Sie auch noch. Ihre Tochter ist keinesfalls in der Lage, den Weg nach Hause zu Fuß zu gehen.“
Ehe Oma antworten konnte, sagte Frau Meindl: „Es wird sicherlich nicht einfach, aber mit Gottes Hilfe werden wir beides beschaffen. Kommen Sie, Frau Babatz. Genau deswegen müssen wir jetzt dringend los.“
Nun verließen wir wieder das Krankenhaus auf dem Wege, auf dem wir gekommen waren. Vor der Treppe stand tatsächlich noch unser Bollerwagen. Ohne lange zu fragen, setzte Oma Rita und mich hinein. Die älteren wollten auch gar nicht da rein. Zu groß war noch die Abneigung. Die vielen Tage und Nächte in dem nach Urin stinkenden Bollerwagen hatten gerade bei den älteren von uns eine große Abneigung gegen diesen entstehen lassen. Oma übernahm wieder mit Frau Meindl die Deichsel. An die freie Hand nahmen sie Brigitte. Hinter dem Wagen ging wieder Frau Laubig, an jeder Hand einen der Zwillinge. So ging es der Stadt entgegen.
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