1 ...7 8 9 11 12 13 ...23 Sanft löste sich Frau Meindl von meiner Großmutter, hob dann ihre beiden Hände abwehrend hoch und sagte: „Lassen Sie es gut sein. Außerdem haben wir morgen noch einiges zu tun, um Sie wirklich über Wasser zu halten. Vor allem müssen wir uns morgen um Ihre Verpflegung kümmern. Ich habe gehört, im Gemeindeamt soll es Lebensmittelmarken geben. Darum müssen wir uns kümmern. Für heute reicht hoffentlich noch der Rest der Hühnersuppe von gestern und die vom Morgen.“ Zu ihrer Tochter gewandt, sagte sie: „Komm, wir gehen jetzt nach Hause, ich muss mich nun etwas ausruhen. Der Tag war doch anstrengender, als ich dachte und morgen werden wir es auch nicht einfach haben.“ Dann hakte sie sich bei ihrer Tochter ein und mit einem freundlichen „Gute Nacht. Wir sehen uns morgen!“ gingen die beiden Damen nach Hause.
Oma machte sich sofort daran, die Reste der Suppen zu verteilen. Als sie damit fertig war und wir alle gesättigt waren, spülte sie die Tassen ab. Dann setzte sie sich an den Tisch. Mehr zu sich selbst, hörte ich sie sagen: „Lieber Gott, ich danke dir, dass du uns geholfen hast, diese furchtbaren Tage der Flucht unbeschadet zu überstehen. Ich danke dir auch, dass du Lenchen geholfen hast, in dieser Lage ein gesundes Kind zur Welt zu bringen. Bitte hilf auch Gerhard, dass er wieder gesund zu uns zurückkommt.“ Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: „Der weiß ja nicht einmal, wo wir abgeblieben sind und wo er uns suchen soll. Der liebe Gott wird ihm aber sicher helfen.“
Nach einer weiteren kleinen Pause wandte sie sich wieder uns Kindern zu: „Kinder, hört mir mal einen Moment zu!“ Sofort hörten die drei älteren Geschwister auf zu zanken. Diese hatten wegen eines von Frau Meindl mitgebrachten, völlig abgegriffenem Teddybären angefangen zu streiten. Es war das einzige Spielzeug, das wir zur Verfügung hatten und das wollten eben alle haben.
„Also, hört mal zu! Ihr habt eben mitbekommen, dass Mama euch heute Morgen noch ein kleines Brüderchen geschenkt hat. Sie lässt euch fragen, wie das Brüderchen heißen soll“, teilte Großmutter uns mit. Oma sah von einem zum anderen. Aber keiner von uns gab ihr eine Antwort.
„Was haltet ihr davon, wenn wir es auf den Namen eures Vaters taufen? Denn wenn euer Papa nicht wieder aus diesem unseligen Krieg heimkommt, dann haben wir wenigstens seinen Namen bei uns in der Familie erhalten“, schlug sie vor. Alle von uns waren sofort damit einverstanden.
Nach einer Weile hörte ich Brigitte fragen: „Omi, Papa kommt doch wieder?“
„Aber natürlich kommt euer Papa wieder. Der liebe Gott wird ihm sicher helfen, wie er auch uns geholfen hat, hierher zu kommen“, beruhigte sie meine Schwester.
Also stand fest, unser neues Geschwisterchen würde Gerhard heißen!
Nun mussten wir uns für die kommende Nacht fertig machen. Ehe Oma das Licht ausmachte, natürlich war es eine Petroleumlampe, sagte sie noch: „Betet zum lieben Gott, dass er uns und eurer Mama auch weiterhin hilft und dass euer Papa bald wiederkommt. Gute Nacht, Kinder. Schlaft gut.“
Nach einer ruhigen Nacht wurde ich erst wach, als Oma mich mit den Worten weckte: „Paulusch, auch du musst jetzt aufstehen. Wir wollen alle zusammen Mama und das kleine Brüderchen besuchen. Also, marsch ins Bad. Gleich werden auch Frau Meindl und Frau Laubig kommen und dann müssen wir alle angezogen sein. Wenn wir Glück haben, bringen sie wieder etwas für uns zum Essen mit. Die Suppen sind nun aber wirklich alle.“
Meine Geschwister waren alle schon angezogen und gewaschen. Also ging ich ins Bad, putzte mir mit der einzigen Zahnbürste, die es gab, meine Zähne, natürlich ohne Zahnpaste.
Als ich in den Wohnraum zurückkam, saßen unsere beiden Wohltäterinnen schon am Tisch. Oma hatte ein Brot in der linken Hand, mit der sie es ganz fest gegen ihre Brust drückte. In der rechten Hand hatte sie ein Messer, mit dem sie eine Scheibe Brot nach der anderen abschnitt. Jeder von uns bekam eine Scheibe. Margarine, Butter, Marmelade oder gar Wurst gab es natürlich nicht. Woher denn auch? Oma fragte die beiden Frauen: „Möchten Sie auch eine Scheibe?“ Zu meiner Verwunderung sagte die ältere der beiden: „Ja, gerne, denn wir haben heute Morgen auch noch nichts gegessen. Das hier ist unser letztes Brot!“ Oma setzte das Messer ab: „Was? Und das geben Sie uns?“
„Natürlich. Die Kinder brauchen doch zuerst etwas zu essen. Wir werden hoffentlich später Lebensmittelmarken und dann auch Lebensmittel bekommen. Auf dem Weg ins Krankenhaus zu Ihrer Tochter kommen wir am Gemeindeamt und an einigen Geschäften vorbei. Ich hoffe sehr, dass wir beides bekommen werden. Sicher ist das allerdings nicht. Wir sollten auf jeden Fall alle Kinder mitnehmen. Unseren Erfahrungen nach werden Kinder und Alte etwas bevorzugt“, antwortete Frau Meindl. Als alle ihre trockene Scheibe Brot gegessen hatten, sagte Oma: „Dann mal los, Kinder!“
Die Kleidungsstücke, die Oma am ersten Abend im warmen Badewasser durchgewaschen hatte, waren in der Zwischenzeit am warmen Ofen trocken geworden. So konnten wir unsere Mäntel und Pullover wieder anziehen. Danach verließen wir alle unseren Wohnraum. Oma, die als letzte den Raum verließ, fragte Frau Meindl: „Nehmen wir den Kinderwagen oder den Bollerwagen mit?“ Frau Meindl überlegte kurz und entschied dann: „Wir sollten nur den Bollerwagen mitnehmen, dann können wir die Kinder ja je nach Müdigkeit hineinsetzen.“ Von uns Kindern wollte aber, bis auf unsere kleinere Schwester Rita, niemand hinein. Dann zog unsere kleine Karawane los. Vorne weg Frau Meindl und unsere Oma. Die beiden zogen auch den Bollerwagen. Frau Laubig hatte Rita noch schnell eine Decke umgelegt. Sie ging mit uns anderen an der Hand, auf jeder Seite zwei, hinter dem Bollerwagen her. Zum ersten Mal konnten wir nun unsere neue Umgebung in Augenschein nehmen. Wir gingen zunächst, aus dem Haus kommend, links, dann die etwas abschüssige Straße, die „Auf der Hut“ hieß, in Richtung Stadt hinunter. Rechts und links der Straße standen in schönen gepflegten Gärten Einfamilienhäuser.
„Hier“, sagte Frau Meindl, „das da ist unser Haus und zeigte auf ein großes, sehr schönes Haus rechts der Straße. Bis vor einigen Jahren wohnten auch noch mein Mann und unsere vier Söhne hier. Mein Mann starb vor drei Jahren an einer Kriegsverletzung, die er sich im Afrikafeldzug zugezogen hatte. Zwei meiner Söhne sind an der Ostfront gefallen, der dritte ist noch vermisst. Von ihm haben wir schon seit einem Jahr, wie auch von meinem Schwiegersohn, kein Lebenszeichen mehr erhalten. Mir ist nur noch mein jüngster Sohn, der jetzt hier im Elisabeth-Stift als Arzt tätig ist, geblieben. Natürlich auch noch meine liebe Tochter, deren Mann, wie gesagt, aber auch seit einem Jahr vermisst wird.“
Während sie das alles erzählte, waren wir vor dem Haus stehen geblieben. Dann spielte sich eine Szene ab, die ich nie vergessen sollte.
Oma hatte die Deichsel des Bollerwagens losgelassen, drehte sich zu Frau Meindl und nahm diese fest in ihre Arme. Mit Tränen in den Augen sagte sie: „Mein Gott, was haben Sie alles durchgemacht. Sie haben den Mann und zwei Ihrer Söhne für immer in diesem unseligen Krieg verloren. Der dritte Sohn und der Schwiegersohn sind noch vermisst. Welch ein Leidensweg!“ Oma drückte Frau Meindl immer wieder an sich, die nun auch zu weinen angefangen hatte.
„Ich hoffe nur“, sagte Oma, „dass diese Halunken, die uns dies Alles durch diesen unnützen und unseligen Krieg eingebrockt haben, eines Tages zur Rechenschaft gezogen werden. Dafür werde ich beten.“ Noch einmal drückte sie Frau Meindl ganz fest an sich. Und mit sehr leiser Stimme sagte sie: „Und Sie, liebe Frau Meindl, müssen für dieses unendliche Leid, das Ihnen zugeführt worden ist, entschädigt und belohnt werden. Auch dafür werde ich beten.“
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