1 ...8 9 10 12 13 14 ...23 Frau Laubig hatte uns Kinder losgelassen, ging zu den beiden älteren Frauen, legte ihre Arme um diese und sagte zu ihrer Mutter: „Mutter, du hast ja auch noch mich und ich werde dich nie allein lassen, das verspreche ich dir.“ Dann gab sie ihrer Mutter ein Taschentuch, mit dem sich diese die Augen trocknete. Diese sagte: „Das weiß ich doch, mein Kind. Nur weil du und Fritz mir noch geblieben seid, will ich noch leben!“
Oma wandte sich nun uns zu und mit Blick auf die älteren von uns sagte sie: „Kinder, wir haben in den letzten Tagen und Wochen viel Schlimmes erlebt und durchgemacht. Die Flucht, die schrecklichen Bombenangriffe, dabei immer Hunger und Durst, der eiskalte Zug, keine Möglichkeit, um auf die Toilette zu gehen, dann der Vater vermisst, eure Mama im Krankenhaus, nichts, was wir einmal hatten und besaßen, ist uns geblieben, aber dennoch, all das ist nicht im Entferntesten vergleichbar mit dem, was die arme Frau Meindl durchgemacht hat. Deshalb merkt euch bitte: Auch wenn es einem im Leben mal so richtig dreckig geht, so gibt es doch Menschen, denen es noch viel schlechter geht. An denen muss man sich dann wieder aufrichten.“
Frau Laubig hatte uns Kinder derweil wieder an die Hand genommen und mit einem fast befehlendem Unterton in der Stimme sagte sie: „Genug jetzt mit der Gefühlsduselei. Nun müssen wir uns aber um die Lebenden kümmern, um Ihre Tochter im Krankenhaus und natürlich um das Baby. Danach sollten wir zusehen, dass wir an Lebensmittelmarken und dann an Lebensmittel kommen. Ich habe heute Morgen schon ein paar Babysachen zusammengesucht und in einer Tasche in die Flurgarderobe gestellt. Wartet einen Moment hier, ich laufe schnell ins Haus und hole die Sachen.“
Schon rannte sie los und verschwand kurz darauf im Haus. Nach einem kurzen Moment ging die Tür wieder auf und Frau Laubig kam mit einer prall gefüllten Tasche in der Hand wieder aus dem Haus. Wieder bei uns angelangt, sagte sie: „Alles gute, wenn auch gebrauchte Babywäsche. Alles aufgehoben von meinen Nichten und Neffen.“ Sie wandte sich Oma zu: „Wissen Sie, das haben Sie meiner lieben Mutter zu verdanken. Sie hat das alles, auch das, was wir Ihnen vorgestern zum Anziehen gebracht haben, trotz so manches Widerstandes in der Familie, aufgehoben. Sie kann einfach nichts, was irgendwie noch brauchbar ist, wegwerfen!“
Mir selbst sollte es im späteren Leben nicht anders ergehen. Bis zum heutigen Tage kann ich nichts wegwerfen, was noch irgendwie verwertbar ist. Meine Familie hat mich deshalb schon so manches Mal verspottet. Aber unzählige Male habe ich mir und auch anderen damit helfen können, wie damals Frau Meindl uns in dieser misslichen Situation mit alten, aber noch brauchbaren Sachen geholfen hat.
„Nun aber los!“, hörte ich Frau Laubig zu uns Kindern gewandt sagen. „Eure Mama und euer Brüderchen warten sicher schon lange auf euren Besuch.“
Unsere kleine Kolonne setzte sich wieder in Bewegung. Nach etwa einer halben Stunde standen wir vor einem alten roten Backsteingebäude. Wieder so ein Gebäude, das ich bis zum heutigen Tage wegen seiner ausstrahlenden Kälte nicht mag. Frau Meindl führte uns auf einen freien Platz rechts neben den Haupteingang und sagte: „Hier bleibt ihr bitte einen Moment stehen. Ich gehe schnell hinein und erkundige mich, wo wir eure Mutter und euer Brüderchen finden können.“
Dann eilte sie die fünf, sechs Treppen hinauf und verschwand in dem Haupteingang. Nach etwa zehn Minuten, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, kam sie wieder. Schon auf der Treppe rief sie uns zu: „Eure Mutter liegt hier im ersten Stock, allerdings irgendwo auf dem Flur. Wir können sie besuchen, hat mir die Schwester an der Rezeption gesagt. Meinen Sohn Fritz habe ich soeben zufällig in der Eingangshalle getroffen. Er will sich gleich darum kümmern, dass Frau Gojny noch heute in ein Krankenzimmer kommt.“
„Na dann mal los!“, sagte Frau Laubig. „Was machen wir aber mit dem Bollerwagen?“, fragte Oma. „Da ich annehme, dass ihr alle zu eurer Mama möchtet und auch das kleine Brüderchen sehen wollt, müssen wir den Wagen wohl oder übel hier stehen lassen. Da hier an der Wand auch einige unbeaufsichtigte Fahrräder stehen, gehe ich mal davon aus, dass uns keiner den Bollerwagen klaut“, sagte Frau Meindl.
Oma schob den Wagen so dicht wie nur möglich in die Ecke zwischen der Treppe und der Wand. Dann gingen wir alle gemeinsam die Treppe hinauf. Als wir durch die Eingangstür in die Empfangshalle kamen, schlug uns ein ganz eigenartiger, übler Geruch entgegen. Mir wurde sofort übel, was ich mir aber nicht anmerken ließ.
Erst einige Jahre später, als ich meine Mutter in Minden im Krankenhaus besuchte, wo sie wegen einer Unterleibserkrankung lag, habe ich erfahren, was das für ein übel erregender Gestank war, der mich damals im Elisabeth-Stift beinahe zum Erbrechen gebracht hatte. Es war der Geruch von Äther! Dieses Zeug wurde damals als Narkosemittel eingesetzt.
Da wir in den ersten Stock mussten, ging Frau Meindl direkt auf die breite Treppe, die gegenüber der Eingangstür lag, zu. Es handelte sich um eine alte, ausgelatschte Holztreppe, die bei jedem Tritt lautstark knarrte. Als wir oben ankamen, wusste Frau Meindl nicht, ob sie nach rechts oder links gehen sollte. Frau Meindl fragte eine Krankenschwester, die zufällig in einem blutverschmierten Kittel vorbeikam, nach unserer Mutter, der Frau Gojny.
„Oh ja, die kenne ich. Sie liegt bei uns auf der Entbindungsstation. Eine tapfere Frau, die heute Morgen einen kleinen gesunden Jungen zur Welt gebracht hat. Kommen Sie, ich bringe Sie zu ihr.“
Dann ging es von der Treppe aus gesehen links den Flur entlang. Am Ende des Flures angekommen, blieb Schwester Erika, so hieß die Schwester, wie wir später erfuhren, überrascht stehen und sagte: „Nanu, wo ist sie denn? Sie stand doch vor etwa einer Stunde noch hier.“ Nachdem sie die Frau, die offensichtlich nun auf dem Platz stand, auf dem vorher das Bett meiner Mutter gestanden hatte, noch einmal genauer ansah, sagte sie: „Kommen Sie mit, wir fragen im Schwesternzimmer nach.“
Schon setzte sich unsere kleine Kolonne wieder in Bewegung. Sie bestand nunmehr aus drei Frauen und fünf Kindern. Wieder ging es den langen Flur in umgekehrter Richtung entlang, vorbei an vielen Betten, in denen teilweise schlafende, aber in manchen auch vor Schmerzen laut stöhnende Frauen lagen. Über alldem lag dieser furchtbare Krankenhausgeruch! Am liebsten wäre ich weggelaufen!
Als wir vor dem Schwesternzimmer ankamen, kam gerade eine andere Schwester heraus. Schwester Erika fragte diese: „Oberschwester, können Sie mir sagen, wo Frau Gojny mit ihrem Baby abgeblieben ist?“
„Frau Gojny? Ach ja, die liegt jetzt in der alten ausgeräumten Besen- und Gerätekammer“, antwortete diese.
„Wo liegt sie?“, fragte Schwester Erika entsetzt.
„Sie haben richtig gehört. Vor etwa einer knappen halben Stunde war Oberarzt Meindl von der „Chirurgischen“ mit unserem Chefarzt hier. Nachdem sie festgestellt hatten, dass selbst mit dem allerbesten Willen kein Platz mehr für Frau Gojny in einem der Krankenzimmer war, hat der Chef angeordnet, die Gerätekammer zu räumen. Die Gerätschaften stehen jetzt hier im Schwesternzimmer. Frau Gojny und ihr Baby liegen nun im Geräteraum. Nicht gerade luxuriös, aber auf alle Fälle besser als auf dem Flur!“, entgegnete die Oberschwester.
Frau Meindl streckte der Oberschwester ihre Hand entgegen: „Gestatten Sie mir, dass ich mich vorstelle. Ich bin Frau Meindl, die Mutter von Oberarzt Dr. Meindl.“
Die Oberschwester ergriff nun die angebotene Hand. „Ich bin die Oberschwester Hildegard. Kommen Sie bitte mit, ich bringe Sie zu Frau Gojny.“
Oma bedankte sich bei Schwester Erika und ging dann der Oberschwester nach. Die war derweilen schon vor einer Tür, in etwa der Mitte des Ganges, stehen geblieben. Ehe die Oberschwester die Tür öffnete, drehte sie sich noch einmal um und fragte: „Frau Meindl, gehören die Kinder alle zu Frau Gojny?“ Ehe Frau Meindl antworten konnte, sagte Oma: „Entschuldigung, ich habe mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Clara Babatz, ich bin die Mutter von Frau Gojny und die fünf hier sind alles ihre Kinder. Der heute Morgen hier geborene Junge ist ihr sechstes Kind.“ Dann fragte sie noch: „Ist denn alles glatt gegangen?“
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