Ohne weitere mit Schrecken behaftete Ereignisse erreichten wir dann Leipzig. Als der Zug zum Stehen kam, war es in unserem Abteil merkwürdig still. Niemand riss die Türen auf, niemand sprang auf den Bahnsteig und alle blieben auf ihren Plätzen.
Die Anspannung und Entbehrungen der letzten Tage (oder waren es gar Wochen?) waren so groß, dass sich keiner der Geflohenen bewegen konnte oder mochte. Aber selbst wenn sie es gemocht oder gekonnt hätten, wohin sollte man? Wohin sollten Mutter und Großmutter mit uns fünf Kindern gehen?
In dieser allgemeinen Stille hörte ich plötzlich die Stimme meiner Mutter: “Oma, Kinder, wir leben noch und sind alle unversehrt, es wird schon irgendwie weitergehen. Der liebe Gott hat uns bis hierher gebracht, er wird uns sicher auch weiter helfen.“
Dann war es wieder still. Niemand bewegte sich. Plötzlich wurden die Türen von außen aufgerissen. Eine laute Stimme ertönte, aber nicht die aus dem krächzenden Lautsprecher: „Alle Zuginsassen steigen hier aus. Der Zug endet hier.“
Die Zuginsassen schauten sich ratlos an, auch unsere Mutter und Großmutter. Aussteigen ja, aber wohin dann? Wieder war es Mutter, die zuerst ihre schnelle Handlungsfähigkeit unter Beweis stellte, indem sie sagte: „Komm, Mutter, lass uns aussteigen. Wie es die Leute gesagt haben, die werden schon wissen, warum wir hier raus sollen.“ Dann stand sie auf, schnappte nach dem Kinderwagen, in dem meine jüngere Schwester Rita saß, schob ihn in Richtung Zugtür, griff dann mit der rechten Hand nach der Deichsel des Bollerwagens, in dem wir vier Älteren saßen und zog auch diesen hinter sich her in Richtung Tür. Oma hatte sich ebenfalls von ihrem Sitz hochgerappelt und schob nun den Wagen von hinten an. So erreichten wir sogar als die Ersten die offenstehende Türe. Mutter stieg als erste Person aus dem Zug, der, wie sich später herausstellen sollte, der letzte Zug war, der aus Niederschlesien herausgekommen war. Genau genommen war es ja nur ein halber Zug. Die hintere Hälfte war in Breslau wegen des Bombentreffers stehen geblieben!
Mit vereinten Kräften hoben die beiden Frauen zunächst den Kinderwagen mit Rita auf den Bahnsteig. Dann wollten sie auf die gleiche Weise den Leiterwagen mit uns vier älteren Geschwistern aus dem Zug heben. Das Vorhaben klappte aber wegen des zu großen Gewichtes nicht. Kurz entschlossen schnappte Oma sich einen nach dem anderen von uns und reichte uns Kinder Mutter, die auf dem Bahnsteig stand, hinunter. Zuletzt wurde der Bollerwagen runter gereicht.
Als wir alle auf dem Bahnsteig standen, auf dem ein reger Personenverkehr herrschte, wurde mir plötzlich um die Beine herum und darüber sehr kalt. Der Grund dafür war, dass wir Kinder uns wohl mehrfach in die Hosen gemacht hatten. Ob aus Angst oder aus anderen Gründen, war letztlich egal. Irgendwann hatten Oma und Mutter für uns keine Windeln oder Unterwäsche mehr, um diese zu wechseln. So hatten wir tagelang in nassen Klamotten ausharren müssen. Seltsam, niemand von uns hatte das so richtig mitbekommen. Zu groß war die Angst bei den Bombardierungen des Zuges, zu groß war wohl auch die Müdigkeit, so dass keiner von uns Kindern dieses wahrgenommen hatte. Als Oma die Decken von uns Kindern nahm, um uns Mutter, die ja schon auf dem Bahnsteig stand, herunter zu reichen, fiel mir jedoch ein beißender Geruch auf, den ich vorher niemals so wahrgenommen hatte. Dieser ekelerregende Geruch hat sich so in mein Hirn gebrannt, dass ich mich bis zum heutigen Tag vor unsauberen, nach Urin stinkenden Toiletten so ekele, dass ich mich im extremsten Fall übergeben muss.
Egal ob stinkend und nass: Oma schnappte sich einen nach dem anderen und platzierte uns wieder in dem Bollerwagen. Anschließend legte sie die klammen Decken wieder über uns. Wie ein verlorener Haufen standen wir nun in Leipzig auf dem Bahnsteig. Weder Mutter noch Oma wussten, wie es weitergehen sollte. Hinzu kam nun noch, dass wir Kinder, wieder einer nach dem anderen, anfingen zu heulen. Wir hatten ja tagelang nichts Vernünftiges mehr gegessen. Kein Wunder, dass sich der Hunger nun schlagartig wieder meldete. So mussten wir wohl, wie wir da so standen, einen ziemlich Mitleid erregenden Eindruck gemacht haben. Vier vor Hunger weinende Kinder auf einem Bollerwagen, ein fünftes in einem Kinderwagen. Daneben eine ältere und eine jüngere Frau, die auch noch hochschwanger war, was nicht zu übersehen war. Alles in allem eine schlimme Situation! So sind wir dann auch zwei Soldaten aufgefallen. Soldaten, die aber so ganz anders aussahen als Onkel Hans und seine Kameraden, die uns zu Beginn unserer Flucht in Groß Wartenberg in den Zug geholfen hatten und die uns in Breslau nach dem furchtbaren Bombenschlag wieder verließen, um Breslau zu verteidigen.
Die Soldaten, die jetzt auf uns zukamen, waren sehr groß und stattlich. Einer von beiden hatte eine sehr dunkle Hautfarbe. Es war der erste dunkelhäutige Mensch, den ich in meinem jungen Leben sah. Ich nehme an, dass die Soldaten durch unser von Hunger und Angst erfülltes Heulen auf uns aufmerksam geworden waren. Sie trugen weißes Koppelzeug und weiße Gamaschen. Sie steuerten direkt auf uns zu. Bei uns angekommen, blieben sie stehen, tippten kurz mit Zeige- und Mittelfinger an ihren weißen Stahlhelm, auf dem ein großes M und ein großes P geschrieben standen. Wie ich irgendwann später erfuhr, standen diese beiden großen Buchstaben für Militär-Polizei. Der weiße Soldat musterte zunächst unsere Großmutter und unsere Mutter, während der Dunkelhäutige uns Kinder näher in Augenschein nahm. Sie schauten uns so eine ganze Weile an, dabei wanderte ihr Blick von Einem zum Anderen. Was sie da sahen, war panische Angst, Hunger und Elend, gepaart mit absoluter Ratlosigkeit. Es muss Mitleid gewesen sein, was sie zu ihrer nachfolgenden Tat veranlasste. Fast gleichzeitig fassten sie in ihre Parkataschen. Als ihre Hände wieder zum Vorschein kamen, hatten sie in jeder Hand ein paar Tafeln Schokolade. Mit den Worten, die der Dunkelhäutige sprach: „Here, Mam, it’s for you and your children“, legten sie die Schokolade auf die Decken unseres Bollerwagens. Nachdem sich bei Mutter und Großmutter die Sprachlosigkeit etwas gelegt hatte, fand Großmutter, die eine hochgebildete Frau war und sowohl die russische, polnische als auch die englische Sprache sicher beherrschte, die Sprache wieder. Sie ging mit zwei, drei schnellen Schritten um unsere „Fluchtfahrzeuge“ herum, ergriff von jedem der Soldaten eine Hand, drückte diese an sich und sagte immer wieder: „Thank you, thank you, thank you.“
Die Soldaten waren nicht auf den Gefühlsausbruch meiner Großmutter gefasst. Sie reagierten jedoch überaus freundlich, was durch ein freundliches Lächeln zum Ausdruck kam. Durch das Lachen wurden die beiden Zahnreihen des dunkelhäutigen Soldaten sichtbar. Sie leuchteten so hell, so dass sie mir wie zwei Perlenketten auf einem schwarzen Samttuch erschienen. Nach Erzählungen meiner Mutter hat mir der dunkelhäutige Soldat so gut gefallen, dass ich ihn aus vollem Herzen angestrahlt habe, woraufhin er sich zu mir herunterbeugte und mir über den Kopf streichelte. Gleichzeitig fasste er mit der linken Hand wieder in die Parkatasche, holte dort einen dicken Schokoriegel hervor und drückte mir diesen in die Hand. Obwohl ich noch sehr, sehr jung war, habe ich damals auf dem Bahnsteig in Leipzig begriffen, dass sich Freundlichkeit immer bezahlt macht und wenn es nur ein freundliches Lachen ist! Der andere Soldat hatte sich zwischenzeitlich meiner Mutter zugewandt, wohl auch, weil er gesehen hatte, dass sie hochschwanger war. Mit einem Blick auf ihren Bauch fragte er sie: „Madam, you need help. If you want I can help you.“ Blitzartig drehte sich Oma, die ja wusste, dass Mutter kein Englisch sprach, den beiden zu und antwortete für Mutter: „Yes, Sir, please help us.“ Der Amerikaner antwortete: „Yes. I will.“
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