Erstens hatten die Russen die deutschen „Verteidigungslinien“ viel schneller durchbrochen als erwartet wurde, und zweitens hatte meine Mutter immer noch gehofft, dass mein Vater nach Hause kommen würde, um mit uns gemeinsam die Flucht anzutreten. Während Mutter noch auf ihn wartete, war Vater am selben Tage während der Ausübung seines Dienstes als Zöllner bereits in russische Gefangenschaft geraten. Was wir alle nicht ahnen konnten, war die Tatsache, dass wir unseren Vater erst viele Jahre später wiedersehen sollten.
Mutter und Großmutter waren nun wohl auch in Panik geraten, denn sie begannen, mit uns im Schlepp zu rennen. Oma zog den Bollerwagen mit der rechten Hand, also links der Deichsel, während unsere Mutter mit der linken Hand rechts der Deichsel zog. Gleichzeitig schob sie mit der rechten Hand den Kinderwagen, in dem meine jüngere Schwester Rita saß. Sie rannten mit uns so schnell Richtung Bahnhof, wie es unter den gegebenen Umständen möglich war.
Endlich kamen wir am Bahnhof an. Dort stand ein sehr langer Zug. Das Problem war, dass dieser Zug schon über und übervoll mit Flüchtlingen war. Unglaubliche Szenen spielten sich auf dem Bahnsteig ab. Vor den Türen eines jeden Wagens hatten sich mehr oder weniger große Menschentrauben gebildet. Jeder kämpfte gegen jeden, um noch einen Platz in einem der Eisenbahnwagen zu ergattern. Es herrschte ein großes Durcheinander und es war unglaublich laut. Schreie, Kommandos, Trillerpfeifen und immer wieder lautes Einschlagen von Granaten und Bomben. Manchmal zitterte der ganze Bahnsteig. Vor lauter Angst hatte ich mich eng an meine ältere Schwester Brigitte gepresst. Dabei merkte ich, dass auch sie am ganzen Körper zitterte. Meine beiden Brüder Hans und Heinrich, die vor uns saßen, hatten ebenfalls angefangen zu schreien. Nur von meiner kleinen Schwester Rita hörte und sah ich nichts. Sie hatte sich wohl in ihrem Kinderwagen unter ihrer Bettdecke verkrochen. Großmutter und Mutter zogen uns im Laufschritt von Wagen zu Wagen, aber an jeder Tür hörten wir: „Der Wagen ist voll.“ In der Zwischenzeit hatten wir fast den gesamten Zug von hinten nach vorn abgeschritten, besser ausgedrückt, „abgerannt“. Mutter hatte wohl auch keine Hoffnung mehr, mit diesem Zug mitzukommen. Als sie sich einmal zu uns umdrehte, sah ich, dass auch sie weinte. Als wir fast am vorderen Ende des Zuges angekommen waren, es muss der vorletzte oder der letzte Wagen vor der Lok gewesen sein, wurde plötzlich direkt neben uns eine Zugtür aufgestoßen. In der Tür stand ein uniformierter Mann und rief sehr laut den Namen meiner Mutter: „Lene!“ Meine Mutter blieb wie angewurzelt stehen, wandte sich dem Soldaten zu und rief: „Hans?“ Der Soldat drehte sich sofort wieder um und sagte ins Wageninnere gerichtet: „Da draußen ist eine Mutter mit fünf Kindern, die müssen noch mit“, und im Befehlston weiter, „helft den Frauen und Kindern reinzukommen.“
Sofort sprangen ein paar hilfsbereite Soldaten aus dem Abteil, packten zuerst den Kinderwagen, dann den Leiterwagen, auf dem ich mich mit meinen Geschwistern befand und im Handumdrehen standen wir auf der Plattform des Abteils, also innerhalb des Eisenbahnwagens. Zwei Soldaten zogen dann noch unsere Mutter und Großmutter durch die Tür. Keine Sekunde zu früh, denn im selben Augenblick, setzte sich der Zug in Bewegung. Der Soldat Hans war neben der Tür stehen geblieben. Nachdem meine Mutter von den Soldaten durch die Tür in den Zug gehoben worden war und sich beide gegenüberstanden, fiel Mutter diesem Hans um den Hals. Als der Soldat nun auch meine Mutter in die Arme nahm, sah ich, dass sein linker Arm verbunden war und sich in einer Armschlinge unter dem Uniformmantel befand.
Meine Mutter fand wohl zuerst ihre Sprache wieder. Ich hörte sie sagen: „Mein Gott, Hans, dich schickt der Himmel! Wo kommst du denn her und was tust du hier?“ Hans drückte Mutter noch einmal mit seinem rechten Arm an sich, ehe er antwortete: „Lenchen, das ist eine lange Geschichte, die ich dir später erzählen werde. Aber zunächst bin ich froh, dass ich euch helfen konnte, noch mit diesem Zug mitzukommen, denn dieser Zug ist mit Sicherheit der allerletzte, der noch Richtung Westen herauskommt. Die Russen stehen bereits vor den Toren der Stadt, die sie sicherlich heute noch einnehmen werden. Dann werden sie gleich weiter nach Breslau ziehen, um auch diese Stadt schnellstmöglich einzunehmen, was ihnen auch gelingen wird, denn wir haben ihnen ja fast nichts mehr entgegenzustellen.“ Letzteres hatte er Mutter mit gesenkter Stimme gesagt und hatte sich dabei ängstlich umgeschaut, wohl aus Angst vor den auch jetzt noch allgegenwärtigen NS-Spitzeln. Etwas lauter sagte er dann: „Wenn wir gleich in Breslau einfahren werden, bleibt um Himmels willen bloß in diesem Zug und fahrt so weit es irgendwie geht in Richtung Westen. Ich selber werde in Breslau aussteigen. Ich bin abkommandiert mit zu helfen, um in Breslau einen Verteidigungsring aufzubauen. Der Führer hat befohlen: „Breslau wird gehalten, koste es was es wolle!“
Dann senkte er wieder seine Stimme und flüsterte meiner Mutter ins Ohr: „Wie das gehen soll, hat dieser Volli..... aber nicht gesagt. Sieh dich doch bloß einmal um. Mit mir sind hier nur Verwundete, Greise und halbe Kinder in diesem Zug. Mit diesem Haufen sollen wir Breslau verteidigen! Hier wird nur noch unnötig Blut vergossen. Welch ein Wahnsinn, wie der ganze Krieg von Anfang an ein Wahnsinn war!“
Dann fragte er: „Wo ist eigentlich dein Mann Gerhard abgeblieben? Ist er etwa gefallen? Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen oder von ihm gehört?“ Mutter antwortete: „Gerhard ging am Montagmorgen, also vor drei Tagen, mit seinem Hund zum Dienst. Er ist dann nicht mehr nach Hause gekommen. Ich habe auch nichts mehr von ihm gehört. Ich hoffe und bete zu Gott, dass ihm nichts passiert ist. Dies ist auch der Grund, warum wir hier nicht eher vor den Russen abgehauen sind. Ich habe halt bis heute Morgen gehofft, dass Gerhard zurückkommt und uns bei der Flucht hilft.“
Während Mutter Hans dies mitteilte, liefen ihr die Tränen heftig über das Gesicht. Hans hatte unterdessen mit seinem gesunden Arm ein Taschentuch aus seiner Hosentasche geholt und trocknete meiner Mutter liebevoll die Tränen von den Wangen. Mutter nahm daraufhin seine rechte Hand, drückte sie an ihre Lippen und küsste sie. Danach sagte sie: „Hans, ohne deine Hilfe wären wir sicher hier nicht mehr rausgekommen. Dir und dem Himmel sei Dank!“ Weiter sagte sie: „Pass bitte auf dich auf, denn wenn dieser ganze Schlamassel vorbei ist, möchten Gerhard und ich dich gesund und munter wiedersehen – wo und wann auch immer.“
Während sich unsere Mutter mit Hans unterhielt, hatte meine Großmutter alle Hände voll zu tun, meine Geschwister und mich ruhig zu stellen. Weiß der Himmel, wie sie das schaffte. Vielleicht war es auch das leichte Schaukeln des Zuges. Auf alle Fälle hatten wir Kinder aufgehört zu weinen. Im Übrigen war es in unserem Abteil ohnehin sehr ruhig geworden. Alle lauschten wohl auf den nächsten Einschlag. Diese Einschläge waren unserem Zug, während er noch in Groß Wartenberg auf dem Bahnsteig stand, gefährlich nahe gekommen. Nun aber hatte der Zug Fahrt aufgenommen und tatsächlich wurden diese furchtbaren Einschlaggeräusche, dieses ohrenbetäubende Krachen und Wummern leiser und blieben mit zunehmender Geschwindigkeit unseres Zuges hinter uns zurück.
Das wirkte wohl nicht nur auf uns Kinder beruhigend, sondern auch auf alle anderen in unserem Abteil, in welchem ausschließlich Soldaten waren, zumindest steckten die Männer alle in Uniform. Wäre das nicht so gewesen, hätten wir, das heißt, meine Mutter und Großmutter mit uns fünf Kindern, niemals einen Platz in dem Abteil bekommen. Natürlich hat die Befehlsgewalt von Hans das möglich gemacht. Wie ich viel später erfuhr, war Hans ein entfernter Verwandter und Freund meines Vaters. Beide hatten zusammen die Schule besucht und zusammen ein paar Semester Jura studiert. Mein Vater wurde aber von seinen Eltern zu Gunsten seines jüngeren Bruders, unserem Onkel Hubert, nach dem vierten Semester wieder von der Universität geholt. Meine Großeltern konnten wohl nicht beiden Söhnen zugleich das Studium bezahlen. Da sie sich von Onkel Hubert aufgrund seines besseren Abiturs mehr erhofften, musste mein Vater die Universität verlassen. Ein Umstand, den mein Vater sein Leben lang nicht vergessen konnte und den er auch bis zu seinem Tod nie richtig verarbeitet hatte. Er fühlte sich durch diese Begebenheit vom Leben betrogen. Onkel Hubert hat aber sein Studium, aufgrund eines allzu flotten Studentenlebens, nie abgeschlossen und ist dann nach dem Krieg Lehrer geworden. Mein Vater ist, nach dem abgebrochenen Jurastudium, zur Zollbehörde gegangen und wurde Zolloberinspektor. Irgendwann wurde er an die deutsch-polnische Grenze nach Groß Wartenberg versetzt, wo er Zollgrenzkommissar wurde.
Читать дальше