Als solcher und bei der Ausübung seines Dienstes, ist er dann von den Russen in Kriegsgefangenschaft genommen worden. Gemäß seinen viel späteren Erzählungen hatte sich das folgendermaßen zugetragen: Dicht neben ihm war eine schwere Granate eingeschlagen. Die Druckwelle warf ihn samt seines schweren Motorrades mit Seitenwagen, in dem sein Diensthund Harras saß, um. Er wurde dann von den aufgewühlten Erdmassen verschüttet und hatte zudem wohl die Besinnung verloren. Als er das Bewusstsein wieder erlangte, befand er sich schon auf einem russischen Militärlastwagen in die russische Kriegsgefangenschaft. Er hatte keinerlei Erinnerungen mehr, wer ihn gefunden und ausgebuddelt hatte und ihm wahrscheinlich das Leben gerettet hatte.
Am wahrscheinlichsten ist es, dass er von den in Groß Wartenberg einmarschierenden Russen gefunden worden war. Sie hatten ihn dann wohl erstversorgt und sofort in Kriegsgefangenschaft genommen. Dass das der Beginn eines achtjährigen Martyriums, sprich Kriegsgefangenschaft, war, konnte er zu dem Zeitpunkt sicher nicht ahnen. Gott sei es gedankt, hatten die Russen ihm aber sehr wahrscheinlich das Leben gerettet.
Es sollten vierzig Jahre vergehen, bis er mir diese schrecklichen Erlebnisse und vieles andere, was er in Sibirien während seiner Gefangenschaft erlebt hatte, erzählen konnte.
Onkel Hans hatte sein Studium beendet und ging direkt danach als Offiziersanwärter zum Militär. Genauer gesagt, ging er zur Luftwaffe. Sicher war er als junger Mann auch irgendwie von dem damaligen NS-System, wie so viele andere auch, begeistert gewesen. Er wollte unbedingt fliegen. Das war nach Lage der Dinge nur beim Militär möglich.
Nach seiner Ausbildung zum Kampfpiloten wurde er ziemlich früh mit seiner Einheit an die Ostfront verlegt. Hier wurde er aufgrund seiner großen fliegerischen und kämpferischen Erfolge sehr schnell Stabsoffizier und Kommandeur einer Kampfeinheit. Bei einem der letzten Einsätze, über oder um Stalingrad, wurde er abgeschossen. Hans konnte seine stark qualmende „Mühle“ gerade noch hinter die deutsche Frontlinie zurückbringen, ehe er auf einem Sturzacker eine Bruchlandung hinlegte. Wie er viele Jahre später erzählte, hat er nie erfahren, wer ihn gefunden und aus dem Wrack seiner Maschine befreit hat. Als er aus der Ohnmacht erwachte, lag er in einem Notlazarett, das sich aber auf polnischem Gebiet befand. Wie er dahin gekommen war, wusste er nicht. Hier wurden seine zahlreichen Verletzungen, die Gott sei es gedankt, alle, bis auf den mehrfachen Armbruch, nicht sehr schwer waren, behandelt. In diesem Feldlazarett erhielt Major Hans Kukla auch den Marschbefehl, sich sofort nach Breslau zu begeben, um die schlesische Hauptstadt zu verteidigen.
Mein Vater hatte meine Mutter, zusammen mit seinem Freund und entfernten Verwandten Hans, in Oberschlesien auf einem Postball kennengelernt. Beide Großväter waren Postbeamte. Hans und mein Vater Gerhard hatten sich wohl beide gleichermaßen in die damals noch junge und bildhübsche Helene (Lenchen) Babatz verliebt. Mein Vater muss wohl das Rennen gemacht haben, denn er hat Lenchen geheiratet und mit ihr sechs Kinder bekommen. Zur damaligen Zeit in Schlesien nichts Besonderes. Meine Mutter war also bei Antritt der Flucht aus dem Osten hochschwanger und gebar noch während der Flucht meinen jüngsten Bruder Gerhard in Klingenthal in Sachsen. Von da an waren wir also sechs Geschwister.
Während unser Zug langsam der schlesischen Hauptstadt Breslau entgegenrollte, unterhielt sich meine Mutter weiterhin sehr angeregt, jedoch im Flüsterton.
Alle Kinder waren wohl eingeschlafen, als plötzlich eine laute Männerstimme ertönte: „Wir laufen in wenigen Minuten in Breslau ein. Der Zug wird aber etwa einen Kilometer über den Bahnhof hinaus fahren. Es besteht die Gefahr, dass auch der Breslauer Bahnhof schon unter Beschuss steht. Sobald der Zug hält, steigen alle Soldaten aus, die Zivilisten bleiben im Zug. Dieser Zug fährt sofort weiter in Richtung Westen, zunächst bis Dresden.“ Nach einer sehr kleinen Pause fügte die Stimme noch hinzu: „Heil Hitler.“
Als der Lautsprecher verstummte, hörte ich, wie Hans meiner Mutter mit gesenkter Stimme sagte: „Das Letzte hätte der Affe sich sparen können!“ Er hatte es zwar leise gesagt, jedoch nicht leise genug, denn plötzlich drehte sich ein älterer Soldat, der hinter Hans saß, um und sagte: „Herr Major, das können Sie ruhig lauter sagen, hier drinnen ist sowieso keiner mehr, der an den Führer glaubt oder gar an den Endsieg.“
Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: „Wir haben viel zu lange die Schnauze gehalten und dafür sind Tausende von uns verreckt. Was wir jetzt tun sollen, ist genau so ein Wahnsinn: Mit bloßen Händen, mit Verwundeten, halben Kindern und Greisen sollen wir nun Breslau verteidigen!“ Und wie zur Bestätigung, hielt er seinen linken Arm hoch. An diesem fehlte die ganze Hand! Onkel Hans hatte sich zwischenzeitlich dem Soldaten zugewandt: „Um Himmels willen, Hauptfeldwebel!“, raunte er ihn an. „Auch wenn Sie Recht haben, halten Sie die Schnauze. Oder wollen Sie in den letzten Tagen von diesen unverbesserlichen Idioten noch umgebracht werden?“
Dabei zeigte er mit seinem Kopf in Richtung eines jüngeren Offiziers, der in der vorderen Hälfte des Abteils stand und seine Lauscher schon weit ausgefahren hatte.
Der Hauptfeldwebel sah den Major irgendwie dankbar an und sagte: „Danke, Herr Major. Sie haben ja Recht. Es lohnt sich nicht, jetzt noch für dieses braune Pack zu sterben, aber es tut gut zu wissen, dass man mit seiner Meinung nicht allein da steht.“
Onkel Hans nickte nur mit dem Kopf. Daraufhin war dieser sehr kurze, aber sehr interessante Gedankenaustausch beendet. Hans wandte sich wieder meiner Mutter zu: „Lenchen, ich, wir müssen gleich hier aussteigen. Ihr bleibt in dem Zug und fahrt so weit ihr irgendwie könnt nach Westen. Die Russen werden sich bestimmt von uns nicht aufhalten lassen. Wenn dieser ganze Schlamassel vorbei ist und wir ihn überleben, werden wir uns bestimmt wiedersehen.“
Während er zu meiner Mutter sprach, rollte der Zug durch den Breslauer Bahnhof. Der größte Teil des Zuges musste das Bahnhofsgebäude schon wieder verlassen haben, als plötzlich wieder dieses furchtbare pfeifende und zischende Geräusch zu hören war. Aus der Erfahrung des heutigen Morgens wusste ich, dass gleich ein ohrenbetäubender Knall folgen würde. Schutzsuchend drückte ich mich an meine große Schwester Brigitte und gleichzeitig zog ich mir die auf unseren Beinen liegende Decke über den Kopf. Doch geholfen hat es nicht. Das Explosionsgeräusch, das jetzt folgte, war so schrecklich, dass ich es für mein Leben nicht mehr vergessen sollte. Die Wucht der Explosion war so gewaltig, dass die Erde bebte. Der ganze Zug oder besser gesagt, das was von ihm übrig war, wurde hin- und hergeschaukelt. Ich hatte Angst, dass der Zug umstürzen würde. Dann war es für einen kurzen Moment still. Hans hatte meine Mutter an sich gerissen und sich mit ihr über den Kinderwagen, in dem meine kleine Schwester Rita lag, geworfen. Unsere Großmutter hatte sich, wohl um auch uns zu schützen, über uns, das heißt, über den Bollerwagen, geworfen. Dann begann ein furchtbares Durcheinander. Von draußen drangen furchtbare Schreie in unser Abteil. Kommandostimmen, Trillerpfeifen, lautes Sirenengeheul, ein Krachen und Bersten vermischte sich zu einem unbeschreiblichen Geräuschszenario. Dann fingen meine Geschwister und ich wie auf Kommando an, furchtbar zu schreien. Vergeblich versuchten Großmutter und Mutter uns zu beruhigen. Ich glaube, es war wohl Onkel Hans, der von allen Abteilinsassen als erster die Fassung wieder gewann. Er sprang auf und brüllte ins Abteil: „Alle Soldaten sofort raus hier! Verteilt euch entlang des Bahndamms, damit wir nicht alle auf einmal im Falle eines erneuten Einschlags erwischt werden.“ Dann drückte er Mutter und Großmutter an seine Brust, streichelte uns Kindern über den Kopf und wandte sich noch einmal kurz meiner Mutter zu und sagte: „Viel Glück und behüte euch Gott.“
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