Ich glaubte, Tränen in seinen Augen zu sehen. Dann stieg er über unseren Bollerwagen hinweg, ging in Richtung Tür und sprang hinaus. Ein paar Minuten später tauchte er noch einmal mit seinem Kopf in der Tür wieder auf und rief ins Abteil: „Lenchen, dieser Zug ist von einer schweren Bombe getroffen worden, das hintere Drittel ist komplett zerstört, es gibt viele Verletzte und Tote. Auch der Bahndamm und das Gleis sind zerstört worden, aber der vordere Teil des Zuges wird gleich weiterfahren.“ Und dann: „Macht's gut!“
Onkel Hans, den ich eigentlich an diesem Morgen das erste Mal richtig wahrgenommen hatte, verschwand irgendwo dort draußen in dem Chaos. Es vergingen Jahre, bis wir ihn wiedersehen sollten. Aber wir haben ihn wiedergesehen!
Mit einem plötzlichen Ruck setzte sich der Zug, nun ein ganzes Stück kürzer, wieder in Bewegung. Jetzt, wo alle Soldaten ausgestiegen waren, war es merkwürdig still in unserem Abteil. Das hatte zur Folge, dass ich Mutter und Großmutter weinen hören konnte, während wir Kinder uns wieder beruhigt hatten.
Haben wir an unserem ersten Fluchttag nur mehrfach großes Glück gehabt oder besaßen wir außergewöhnliche Schutzengel? Wir waren ja nicht nur bei den äußerst gefährlichen, nahen Bomben- und Granateinschlägen unverletzt und mit dem Leben davon gekommen, sondern hatten doch tatsächlich den allerletzten Zug, der Niederschlesien verlassen konnte, erwischt. Immer wieder hörte ich Mutter mit weinender Stimme fragen: „Wo ist Gerhard, was ist mit ihm nur passiert? Hoffentlich ist er noch am Leben!“ Er war noch am Leben und wir sollten ihn auch wiedersehen! Unser Zug rollte weiter gen Westen.
Wie lange unsere Flucht vor den Russen eigentlich dauerte, weiß ich nicht mehr zu sagen. Der Zug stoppte mehrmals, nur um dann wieder anzufahren und erneut stehen zu bleiben. Immer wieder schlugen in der Nähe des Zuges Bomben oder Granaten ein, ohne ihn aber noch einmal zu treffen. Noch heute spüre ich die Kälte, die in diesem Zug herrschte. Alle Augenblicke beugte sich entweder unsere Mutter oder unsere Großmutter über uns, um uns mit einer der über uns ausgebreiteten Decken einzupacken und uns so vor der grimmigen Kälte zu schützen. Einmal fiel dabei meiner Mutter eine Träne aus ihrem Auge. Diese traf mein Gesicht, und weil diese Träne so kalt war, hatte ich mich so sehr erschrocken, dass auch ich zu weinen begann.
Wenn der Zug anhielt, und das war sehr oft, ging immer ein lautes Gebrüll los, das sich wie Kommandos anhörte. Oft stand der Zug auch mehrere Stunden irgendwo auf freier Strecke. Dann hörte man die Waggontüren auf- und zuschlagen und zwar so laut, dass es mich immer mit einem furchtbaren Schrecken aus dem Schlaf riss. Jedes Mal streichelte mir dann entweder Mutter oder Oma liebevoll über den Kopf, so dass ich wieder einschlief, um mit dem nächsten Krachen wieder aufgeschreckt zu werden. Irgendwann bekamen wir alle Hunger. Meine Oma fasste unter die Matratze des Kinderwagens und holte dort irgendwo Brot hervor. Sie schnitt mit einem Brotmesser, das sie ebenfalls aus dem Kinderwagen hervorholte, ein paar Scheiben ab, teilte diese und gab jedem von uns eine halbe Scheibe. Wie lange das Brot reichte, weiß ich heute nicht mehr. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass wir auf der Flucht in den Westen unter ganz großem Hunger gelitten haben. Auch diese Tatsache hat mich für mein Leben geprägt. Bis zum heutigen Tage konnte und kann ich keine brauchbaren Lebensmittel wegwerfen.
Irgendwann wurde das furchterregende Grollen und Donnern, das wir vom Beginn unserer Flucht schon kannten, wieder lauter. Sofort spürte ich, wie in unserem Abteil, das sich bei den vielen Stopps längst wieder aufgefüllt hatte, Panik ausbrach. Meine Geschwister und ich fingen lauthals an zu schreien. Als dieses entsetzliche Grollen, Donnern und Pfeifen schier unerträglich schien, warfen sich Mutter und Großmutter wieder über uns Kinder, um uns mit ihren Körpern zu schützen. Diesmal lag Mutter mit ihrem Gesicht direkt über meinem Kopf und so hörte ich sie beten: „Lieber Gott, hilf uns bitte, lass uns das alles hier und später gesund überstehen und bringe uns möglichst bald in Sicherheit.“ Der liebe Gott muss Mutters Stoßgebet erhört haben, denn schlagartig hörte dieses unbeschreibliche Getöse auf. Es folgte eine beinahe beängstigende Stille. In diese Stille hinein hörte ich Mutter sagen: „Lieber Gott, ich danke dir.“ Eine Begebenheit, die für mein späteres Leben sehr wichtig war und mich prägte. So verankerte sich in mir ein unerschütterliches Gottvertrauen, das ich mir mein ganzes Leben erhalten habe. Ohne dieses hätte ich mein späteres Leben niemals so aufbauen können, wie ich es getan habe. Alle Risiken, alle Gefahren, alle Krankheiten hätte ich ohne Gottes Hilfe niemals überstanden.
Mit einem kräftigen Ruck setzte sich unser Zug wieder in Bewegung. Wie lange wir in diesem Zug verweilten, weiß ich heute nicht mehr zu sagen. Waren es Stunden, Tage oder gar Wochen? Irgendwann wurde ich wieder einmal aus dem Schlaf gerissen. Mit lauter Stimme, wenn auch krächzend und stotternd, meldete sich wieder einmal der Zuglautsprecher: „Vor uns liegt jetzt Dresden, es liegt bereits unter Beschuss. Wir haben aber noch freie Fahrt. Wir werden daher versuchen, noch durchzukommen.“
Plötzlich zuckten grelle Blitze durch die Nacht. Sofort fing ich wieder lauthals an zu heulen. Wohl deshalb nahm mich meine Oma aus dem Bollerwagen. Als ich dann auf Omas Knien saß, konnte ich aus dem Fenster schauen. Die Bilder, die ich dann zu sehen bekam, haben sich für immer in mein Gehirn eingebrannt. Soweit das Auge reichte, sah ich nur brennende Häuser. Immer wieder schien es mir, als fiele das Feuer vom Himmel. Dieses Inferno wurde von starken Explosionen unterbrochen. Alles in allem ein nicht zu beschreibendes, furchtbares Szenario. Als es endlich wieder ruhig wurde, nahm ich wahr, dass auch meine Geschwister lautstark heulten. Oma und Mutter bemühten sich, uns wieder zu beruhigen, obwohl sie selber am ganzen Körper zitterten.
Das Brot, das Oma im Kinderwagen mitgenommen hatte, war irgendwann aufgegessen. Die Versuche meiner Mutter, uns etwas Essbares zu besorgen, hatten wohl nur sehr geringen Erfolg. Als der Hunger fast unerträglich schien, stoppte der Zug wieder einmal. Ob nun das Stoppen des Zuges, das plötzlich laut einsetzende Stimmengewirr oder der plärrende Zuglautsprecher es waren, was mich aus dem Schlaf riss, ich weiß es nicht. Wahrscheinlich war es alles zusammen. Aber an das, was die Lautsprecherstimme sagte, erinnere ich mich noch sehr genau: „Wir haben soeben erfahren, dass die Strecke vor uns frei ist und nicht unter Beschuss liegt. Wir werden daher versuchen, noch heute Leipzig zu erreichen.“
Ich war ja damals noch ein ziemlich kleiner Steppke, aber dennoch glaube ich, mich daran erinnern zu können, dass in unserem Abteil so etwas wie Erleichterung aufkam, insbesondere nach der nächsten Lautsprecheransage: „Wie wir eben in Erfahrung gebracht haben, sind von Westen her die Amerikaner in Leipzig eingerückt.“
Was nun zu einer schlagartig besseren Stimmung in unserem Abteil führte, kann ich nicht sagen. War es das langsame Abebben des furchtbaren Bombardements auf unseren Zug von Breslau bis Leipzig, welches alle in unserem Abteil trotz wahnsinniger Angst und Schrecken und trotz des starken Hungers unversehrt überstanden hatten oder die Nachricht, dass die Amerikaner in Leipzig einmarschiert waren? Die Erleichterung, die durch unseren Zug ging, war für mich deutlich fühlbar.
Die Fahrt mit diesem Zug zwischen Dresden und Leipzig dauerte noch einige Stunden. Aufgrund der Tatsache, dass mich Oma wieder auf ihren Schoß genommen hatte, konnte ich wieder aus dem Fenster schauen. Immer wieder tauchten brennende Gebäude oder gar ganze Ortschaften auf, die lichterloh brannten. Auf einmal fuhr der Zug so dicht an einem brennenden Gehöft vorbei, dass der beißende Rauch in unser Abteil eindringen konnte. Dieser Rauch stank so bestialisch, dass alle Menschen in unserem Abteil anfingen, zu würgen und zu husten. Eine Bombe hatte die Stallungen getroffen, die daraufhin in Flammen aufgingen, mitsamt den darin befindlichen Tieren. Da aber die Fenster unseres Zuges durch die Bomben zum Teil zerbrochen waren, zog der Qualm recht schnell wieder ab.
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