Er hatte sich damals entschlossen, diese neue psychodynamische Hypothese auszuprobieren. Deshalb änderte er die Aussage der Patientin und forderte sie auf, mit aller Kraft und persönlicher Wahrheit auszurufen: „Auch ich brauche Liebe!“
Als er dabei ihre Stimme schier versagen hörte, wußte er, daß er auf dem richtigen Weg war.
Unerbittlich hatte er mit ihr über eineinhalb Stunden geübt, ihre Kraft und Wahrheit in den stimmlichen Ausdruck zu bringen.
Urplötzlich hatte dann die Patientin so reagiert, wie er das viel später bei Psychotherapien mit der Urschreimethode von Arthur Janow erlebt hatte, in der die Patienten in ihren tiefsten seelischen Schmerz durchbrechen sollten, um sich ihn von der Seele zu schreien und zu ihren echten Gefühlen zu stehen.
Mit einer fast grauenvollen Sehnsucht hatte die Patientin zu schreien begonnen: „Ja! Ja! Ich brauche Liebe! Liebe! Ich brauche Liebe!“
Sie war zu ihrer existentiellen Wahrheit durchgebrochen.
Ihn hatte dieser Schrei wie ein Faustschlag in den Solarplexus getroffen.
Es war ein Schmerz, der sich kalt anfühlte. Und ihm war auch ein eiskalter Schweiß ausgebrochen. Auf der Verstandesebene war er ganz ruhig gewesen. Er hatte die Situation emotional und sich selbst unter Kontrolle gehabt. Aber er war bis in sein tiefstes Inneres erschüttert worden.
Ihm war sofort klar gewesen, diese Frau hatte nicht nur ihre existenzielle Wahrheit ausgedrückt, sondern alle Anwesenden emotional entblößt. Auch sie alle waren von dieser Wahrheit betroffen und getroffen!
Er sah eine junge Frau wie ohnmächtig von ihrem Stuhl sinken. Die beiden Nachbarinnen fingen sie auf und führten sie raus. Sie weinten.
Drei oder vier Personen waren aufgesprungen und verließen kreidebleich den Raum.
Einige saßen wie erstarrt.
Der Oberarzt ihm gegenüber zitterte am ganzen Köper. In seinen Augen stand blanke Angst.
Er aber hatte die Frau weiter schreien lassen.
Immer wieder wiederholte sie ihren Schrei, dann brach sie in heftiges Schluchzen aus.
Er war zu ihr gegangen und hatte sie in den Arm genommen. Zu sagen hatte er nichts gewusst.
Sie hatten die Gruppensitzung aufgelöst.
Der Oberarzt war kommentarlos verschwunden. Die meisten Patienten waren auf ihr Zimmer gegangen. Später saßen sie nur flüsternd beim Mittagessen.
Interessanter Weise taten dann alle Beteiligten am nächsten Tag, als sei nichts geschehen.
Die Patientin, die er zunächst unter eine lückenlose Beobachtung durch die Schwestern und Pfleger gestellt hatte, kam am dritten Tag nach der Gruppentherapiesitzung zu ihm, um sich zu bedanken und um ihre Entlassung zu bitten.
Sie wurde am nächsten Tag depressionsfrei entlassen. Ein Vierteljahr später hatte sie, zusammen mit ihrem neuen Freund, ihn und die Station als strahlende und glückliche Frau besucht.
Er aber hatte für sich eines der größten Geheimnisse der Psychiatrie entdeckt.
Nicht nur, wie existenziell das Bedürfnis nach Liebe die Menschen erfüllte. Sondern auch, daß es meist das Positive ist, das die Menschen am meisten fürchten.
Er hatte begriffen, daß die meisten Verhaltensstörungen und psychischen Symptome und Erkrankungen der Abwehr des Positiven im Leben dienten.
Es war offensichtlich leichter, sich selbst zu problematisieren oder sich auf Probleme statt auf Lösungen zu fixieren, als sich zu seinen Gefühlen und Bedürfnissen zu bekennen und diese zu leben. Besonders, wenn diese Lösungen oder Gefühle von anderen Menschen nicht akzeptiert wurden.
Und er fragte sich, ob er sich selbst nicht auf diesem Abweg befinde, weil er sich seit der Trennung von Aletta Lücke keiner Frau mehr genähert hatte.
An diesem Morgen war etwas anders. Er spürte es, als er aufwachte. Aber er wußte zunächst nicht, was sich verändert hatte.
Als er sich entschloß aufzustehen, erkannte er, daß das Jucken an seiner Augenbraue aufgehört hatte.
Im Spiegel sah er dann, daß die Warze genau so groß war wie zuvor, dieses entzündliche Rot jedoch vergangen war. Die Warze hatte jetzt die Farbe seiner übrigen Haut.
Nach der Morgentoilette setzte er die Reihe seiner hypnotischen Übungen fort und brach in das Büro auf.
Frau Herr war schon anwesend und grüßte ihn freundlich.
Er erwiderte ihren Gruß und fragte, ob Frau Zappeck schon da sei.
„Sie wartet schon in Ihrem Zimmer. Ich habe ihr einen Kaffee angeboten.“
Er nickte und trat in sein Zimmer.
Frau Zappeck hatte die Knie angewinkelt und hielt mit beiden Händen ihre Kaffeetasse auf den Knien fest.
„Bleiben Sie bitte sitzen!“, sagt er schnell und gab ihr die Hand.
„Können wir gleich loslegen?“
„Ja, sicher doch, bitte!“ entgegnete sie.
„Ich möchte zusammenfassen, was ich verstanden habe.
Sie haben einen Familienbetrieb, der das Lebenswerk Ihres Vaters und auch Ihres Onkels ist und der sich bisher wirtschaftlich zufriedenstellend entwickelt hatte.
In letzter Zeit und nach der Pensionierung Ihres Geschäftsführers hat Ihr Neffe die Geschäftsführung übernommen.
Dieser macht ihnen Sorge, weil er zu viel Geld ausgibt, siehe gelber Ferrari, und zu wenig Zeit der Firma widmet, siehe Golfspiel.
Sie überlegen, wie Sie die Situation positiv beeinflussen können, ohne das Familiengeschirr zu zerdeppern.
Sie möchten die Firma aus Pietät gegenüber Ihrem Vater und weil sie eine wichtige finanzielle Grundlage für Ihre Familie darstellt, am liebsten erhalten. Oder in einer Weise in einer größeren Firma aufgehen sehen, an der die Familie dann durch Aktien oder in anderer Weise beteiligt wären.
Ist das soweit korrekt?
„Ja, genau so ist das, Sie haben das gut ausgedrückt!“
„Haben Sie diese Sicht der Dinge den anderen Gesellschaftern geschildert?“
„Ja, aber mein Neffe ist dagegen und die Anderen halten sich raus.“
„Und Sie möchten einen offenen Konflikt vermeiden, weil der Ihre Familie, mit der Sie einen guten Kontakt haben, spalten könnte?“
„Ja! Genau! Und ich mag auch meinen Neffen, aber ich zweifele, ob er die zur Führung einer Firma nötigen Voraussetzungen besitzt.“
„Also sah ihre bisherige Problemlösungsstrategie so aus, daß Sie einen sozialen und vielleicht auch familiären Konflikt durch Konfliktlosigkeit versucht haben zu lösen und dabei festgestellt haben, daß das nicht geht. Richtig?“
„Wenn Sie das so ausdrücken, ja!“
„Und Sie haben noch keine Idee, wie Sie das Dilemma lösen können.“
„Genau!“
„Die einfachsten Lösungen in dem geschilderten Fall wären alle aggressiv. Dies möchten Sie aber möglichst ausschließen.
Es gäbe die Möglichkeit, zunächst nichts zu machen und die Firma den Bach hinunter gehen zu lassen, bis eine Änderung unumgänglich wäre. Dabei würde die Firma aber für einen Verkauf immer uninteressanter. Ihre Konkurrenten würden sie dann nicht kaufen, sondern totkonkurrieren wollen.
Ich sehe, Sie sind sehr anspruchsvoll, was eine Lösung angeht!“ lächelte Renansen. „Kein Wunder, daß Sie noch keine Lösung gefunden haben und schlecht schlafen!“
Frau Zappeck lächelte erleichtert: „Schön wie Sie das sagen! So klingt das fast schon gut.“
Dann mußte sie lachen.
„Sie verstehen von der ganzen Sache mehr als ich“, schlug Renansen vor.
„Was halten Sie davon, wenn wir Ihr Unbewusstes fragen, ob es einen Rat hat?“
„Ja, wenn das geht, gerne!“
„Gut, dann stellen Sie doch bitte die Tasse ab und setzen sich bequem hin! So bitte!“
Er hielt seine beiden Hände und die Unterarme abgewinkelt betont locker vor die Brust.
„Und jetzt schließen Sie bitte die Augen!
Sagen Sie innerlich Ihrem Unbewussten, daß Sie ihm erlauben, sich ungestört über die Hände auszudrücken, indem diese sich von ganz alleine bewegen dürfen!
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