Auch wenn Karthmans Ton gelassen blieb, merkte man ihm an, dass ihn die Zustände aufwühlten.
„Das wird keinen aufschiebenden Einfluss auf die EU-Genehmigung des SEEDAGRO Kaufs haben“, kommentierte Krüger. „Aber es ist ein guter Punkt für ekelhafte Nachfragen, denn die Beteiligung an der rumänischen Firma war bisher nicht bekannt. Und das ist seltsam.“
„Oh, die weiße Weste hat noch ein paar Flecken, keine Sorge. SEEDAGRO ließ im Geschäftsbericht 2013 verlauten, die mexikanische Filiale habe 2013 offiziell alle Pflanzenforschungen eingestellt. Wenn Sie aber auf die Webseite der mexikanischen Filiale schauen, dann wird dort selbstverständlich ein großes Forschungslabor unterhalten. Scheinbar wollte man europäische Gemüter beruhigen und hat im Geschäftsbericht ein bisschen geflunkert.“
„Warum gehen die so plump vor?“, fragte sich Krüger.
„Weil sie dumm sind. Und dann hat SEEDAGRO in Mexiko angeblich ungenehmigte Freilandversuche durchgeführt, die ihnen aber wegen eines Laborbrandes nie nachgewiesen werden konnten.“
„Ah, jetzt schließt sich ein Kreis“, frohlockte Krüger. „Ich sah nämlich zufällig eine Pressemeldung über den Laborbrand vom selben Monat, in dem SEEDAGRO-Manager wegen illegaler Freisetzung gentechnisch veränderter Pflanzen verhaftet werden sollten. Jetzt verstehe ich: Die Sicherstellung der Beweismittel aus den Labors kam nie zustande. Der Brand vernichtete alles. Die Anklage musste aufgegeben werden.“
Krüger verschwieg Terry Hennings. Nicht, weil er Karthman misstraute, sondern weil er generell nie jemand außerhalb der EIO in Details einer aktuellen Ermittlung einbezog.
„Hier in dieser Mappe“, sagte Karthman und übergab eine dicke Akte, „sind die ganzen schwarzen Flecken, die mir aufgefallen sind, zusammengestellt.“
„Vielen Dank. Sie haben mich ein ganzes Stück weitergebracht. Ich bin sicher, dass ich wegen der chinesischen Aktivitäten wieder auf Sie zukomme.“
„Jetzt ist Schluss mit der Arbeit. Nun beginnt ein Vergnügen, das mit Ihnen zu teilen mir eine besondere Freude ist. Und da Sie, wie ich weiß, ein Freund der guten Küche sind, werden wir nun dahin verschwinden und die schwäbischen Maultaschen höchstpersönlich zubereiten. Allerdings war Pauline so nett, uns einige Vorbereitungen abzunehmen.“
Die Küche war groß und bot allen Beteiligten Platz, um die von Karthman dirigierten Arbeiten zu erledigen. Dazu degustierten sie einen Kaiserstühler Weißherbst, einen berühmten Roséwein aus der Region. Nach dem Essen fuhren sie mit der Schlossbergbahn auf den Freiburger Schlossberg hinauf, von dem man eine fantastische Sicht auf das Münster, die Altstadt und die Umgebung hatte. Während des Spaziergangs ging Karthman auf die einzelnen Vorstände von TELMAR CHEMIE & PHARMA und SEEDAGRO ein. Er kannte ihre Vergangenheit ziemlich lückenlos. Auch Marco Helfiger, Forschungsvorstand bei SEEDAGRO, war ein offenes Buch für ihn.
„Helfiger war als einziger Vorstand in der Firma SEEDAGRO groß geworden und hatte als einfacher Forschungsassistent angefangen. Es gibt sonst niemanden in der Führungsetage der Firma, der sie in- und auswendig so gut kennt.“
Karthman vertrat die Meinung, dass TELMAR CHEMIE & PHARMA den CEO von SEEDAGRO absetzen und einen neuen Chef eigener Wahl einsetzen werde. Die Hoffnungen von Helfiger, einmal Chef von SEEDAGRO zu werden, seien somit obsolet.
Karthmann sah Krüger fest in die Augen.
„Helfiger muss sich warm anziehen. Die Forschungsstrategie wird mit Sicherheit von TELMAR CHEMIE & PHARMA vorgegeben, ob das Helfiger passt oder nicht.“
Nachdem sie zurückgekehrt waren, beendete Krüger seinen Bericht und schickte ihn zusammen mit allen elektronischen Unterlagen, die er von Karthman erhalten hatte, an sein Büro.
Für den Abend hatte sich Karthman eine neue Überraschung ausgedacht. Sie wurden abgeholt und in den benachbarten Kaiserstuhl in den Weinort Ihringen gebracht. Im Restaurant Zum Goldenen Rad wurden sie vom Besitzer wie Könige empfangen. Es gab frisches Maiböckchen mit Bärlauchspätzle und Sauerkraut im Quarkmantel. Dazu entschieden sie sich für einen vorzüglichen Riesling.
18. Bern (Schweiz); Mai 2016
Die Fahrt von Freiburg nach Bern dauerte diesmal nur knapp über zwei Stunden. Ohne sein Navigationssystem hätte er sich hoffnungslos verfahren. Etwa eine Viertelstunde nach seiner Ankunft im Mövenpick-Hotel klingelte sein Mobiltelefon. Es war Brockmann.
„Sind Sie gut angekommen? Herzlich willkommen in Bern. Und sind Sie zufrieden mit dem Hotel?“
„Ja, danke, alles bestens. Wie sind Ihre Pläne für heute?“
„Sie kommen zu mir. Ich bin leider noch unterwegs und werde mich verspäten, sagen wir in zwei Stunden?
„Hervorragend.“
„Nehmen Sie ein Taxi oder das Tram. Lassen Sie Ihr Auto stehen. Es gibt bei uns kaum Parkplätze.“
Nachdem er sich umgezogen hatte, verließ er das Hotel, um sich ein wenig in der Stadt umzusehen.
Am Empfang des Gebäudes, in welchem Brockmann sein Büro hatte, erwartete man ihn bereits. Eine ältere Frau begrüßte ihn und führte ihn zum Aufzug. Der setzte sich nur in Bewegung, wenn man eine Codekarte einsteckte, die vermutlich die Zugangsberechtigung regelte. In der vierten Etage stiegen sie aus. Auch hier öffneten sich alle Türen nur mittels Codekarte. Schließlich erreichten sie Brockmanns Büro.
Die Frau klopfte kurz an die Tür und öffnete, ohne abzuwarten. Ein großer, schlanker Mann, Ende fünfzig, erhob sich und kam um seinen Schreibtisch herum auf Krüger zu. Er trug eine zerknitterte blaue Anzughose; sein Hemd war mausgrau und die Krawatte hing auf Viertel vor neun. Krüger fand Urs Brockmann auf Anhieb sympathisch. Brockmann hatte einen festen Händedruck.
„Schön, dass Sie ihr Weg nach Bern geführt hat“, sagte er mit seinem melodischen schweizerdeutschen Singsang. „Wir kennen uns vom Telefon und von der E-Mail. Das bringt wohl die Zeit so mit sich, dass die modernen Kommunikationsmittel uns der Unmittelbarkeit berauben.“
Brockmann strahlte eine große Herzlichkeit aus. Sein schlankes Gesicht wurde geprägt von seinem schwarzen, kurz gestutzten Schnurrbart und verlieh ihm jene Würde, die sich zusammensetzt aus langer Erfahrung im Umgang mit Menschen und einer unverbrüchlichen Portion Herzlichkeit. Die schwarzen, blitzenden Augen und der militärisch kurze Schnitt seiner schwarzen, drahtigen Haare standen dazu in Kontrast, und Krüger erahnte die schlummernde Unbeugsamkeit und Zähigkeit.
„Bitte nehmen Sie Platz.“
Sie setzen sich an den schmucklosen Besprechungstisch, auf dem bereits zwei weiße, klinisch tote Bürokaffeetassen warteten, daneben die obligatorisch weiße Plastikthermokanne.
„Sind Sie zum ersten Mal in Bern?“, wollte Brockmann wissen.
„Ja. Die Stadt gefällt mir. Da ich Freiburg ein wenig kenne, kommt einem in Bern vieles vertraut vor, und man merkt, dass Bern von denselben Herrschern gegründet und geplant wurde.“
„Ja dann werden wir die Zeit, die wir heute Abend haben, gleich ausnutzen und noch mehr von der Gegend des Berner Oberlandes präsentieren. Lassen Sie sich überraschen. Auf jeden Fall steht das Menü schon felsenfest: Raclette.“
„Das ist sehr nett, und ich habe auch schon vorgehungert“, antwortete Krüger.
„Aber Ihr Besuch hat ja einen sehr ernsten Hintergrund, Herr Krüger“, fuhr Brockmann fort. „Der Fall Terry Hennings ist sehr mysteriös für mich. Zuerst gab es dazu gar keinen Anlass. Wanderer fanden den Toten und benachrichtigten die Kantonspolizei. Die Identifikation war rasch geschehen. Die Leiche wurde von der Bergwacht geborgen, und der Fall wurde vom Eidgenössischen Polizeidepartement in Sion übernommen. Die Unfall- und Mordkommission in Bern wurde routinemäßig eingeschaltet, da es sich bei Hennings um einen Ausländer handelte. Mein Dezernat stellte damals einige Ermittlungen an, Sie wissen: Wohnort, Arbeitgeber, Familie recherchieren, Bekannte befragen und so weiter. Ich musste den Fall nach zwei Monaten entnervt zu den Akten legen, aber es blieben einfach zu viele Ungereimtheiten zurück. Wir fanden keine Spur für ein Verbrechen und keine Motive. Aber warum hatte man sein fahruntüchtiges Auto weitab auf einem Autobahnparkplatz in der Nähe von Thun gefunden? Warum war er nicht verabredungsgemäß in Kandersteg bei seinem Bekannten erschienen und hatte diesen auch nicht benachrichtigt? Stattdessen verunglückte Hennings tatsächlich auf einer ganz anderen Wanderroute, die außerdem für routinierte Bergwanderer harmlos war? Er hatte nirgends in der näheren Umgebung übernachtet. Er musste ja schon ziemlich weit oben in der Gemmi gewesen sein, als er ausrutschte und abstürzte, hatte aber seinen Proviant und seinen Wasservorrat nicht angerührt. Offensichtlich vermisste ihn SEEDAGRO gar nicht, und man erklärte, dass sich Hennings angesichts seiner überstrapazierten Arbeitssituation in einer Art stillschweigend vereinbartem Urlaub befunden habe. Wir fanden heraus, dass sich sein Mobiltelefon auf dem Parkplatz, auf dem man seinen Mietwagen fand, um exakt zweiundzwanzig Minuten nach seinem Anruf bei der Autobahnmeisterei aus dem Mobilfunknetz ausbuchte und auch nie mehr eingeschaltet wurde. Auch die zuletzt geführten Telefonate brachten uns nicht weiter. Zu gerne hätte ich gewusst, warum Hennings circa zwei Wochen vorher die russische Botschaft in Bern angerufen hatte. Dort nachzufragen war allerdings aussichtslos. Nur wenige Gegenstände aus seiner Wohnung wanderten in die Asservatenkammer: Eine Piaget Uhr, ein Montblanc Kugelschreiber und drei DVD-Filme, die wir im Auto fanden. Seltsamerweise handelte es sich um Originalhüllen, aber DVD Filmkopien. Die einzige Angehörige von Hennings, seine in London lebende Schwester, hatte wenig Interesse an den persönlichen Habseligkeiten. Sie nahm aus dem erst kürzlich von Hennings bezogenen Appartement ein paar Fotos, Briefe und Bücher mit. Die Polizei händigte ihr vor Ort noch seine Digitalkamera, einen Smartcardleser, einen DVD-Recorder und alle seine Wertsachen und Kreditkarten aus. Hennings wurde im selben Ort begraben, in dem seine Schwester lebt. Einer Autopsie der Leiche stimmte sie nicht zu, da kein Verdacht auf ein Verbrechen vorlag. Die intensive Durchsuchung seiner Wohnung in Genf und eine Analyse der Festplatte sowie aller E-Mails seit seiner Rückkehr aus Mexiko förderten nichts Verwertbares zutage. Seltsam war nur, dass man SEEDAGRO die Tatsache des Mexikoaufenthalts fast gewaltsam aus der Nase ziehen musste. Ich konnte die Mauer bei SEEDAGRO gegen die Ermittlungen förmlich spüren und wurde den Eindruck nicht los, dass es sich bei dem Verhalten von SEEDAGRO, möglichst knappe, aber gerade noch ausreichende Antworten auf meine Fragen zu geben, um eine verabredete Taktik handelte. Und dann passierte etwas Unvorstellbares: Die Fremdenpolizei von Genf rief uns an. Sie sind üblicherweise für die Gewährung der Aufenthaltserlaubnis von Ausländern zuständig. Der Leiter des Eidgenössischen Biologischen Instituts in Bern, Professor Boegli gab eine Aktennotiz an die Ausländerpolizei, nach der gegen Hennings in Mexiko Haftbefehl vorläge und man daher die Gewährung seines Aufenthaltsrechtes in der Schweiz doch kritisch prüfen solle. Unsere Recherchen ergaben jedoch, dass der Haftbefehl von den mexikanischen Behörden wieder fallengelassen worden war. Ich habe sogar die Originalübersetzung erhalten. Hier ist sie.“
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