„Ja, davon habe ich schon gehört“, sagte Hanna Losch. „Aber warum gehen die auf so wichtige Punkte nicht ein?“
„Warten wir es ab, ich kann mir darauf auch keinen Reim machen, außer sie vermeiden konsequent alle typischen Reizworte, um keine dummen Fragen zu provozieren“, meinte Krüger.
Inzwischen neigte sich der Reigen der Sprecher dem Ende zu. Langsam ebbte auch das Blitzlichtgewitter ab. Die Journalisten wurden gebeten, für ihre Fragen die Saalmikrofone zu nutzen. Maximal eine Stunde war für Fragen reserviert.
Die ersten Fragen drehten sich um die Genehmigung durch die EG-Kommission und die Schweizer Wettbewerbskommission. Die Herren auf dem Podium rechneten zuversichtlich mit der Genehmigung, da das Marktgefüge und der Markteinfluss nicht verschoben würden.
Die nächsten Fragen kreisten um Arbeitsplätze und Einsparungen, die durch den Zukauf möglich würden. Doppelarbeit und Doppelforschung würden eingestellt und gestrafft, vermuteten die Journalisten. Die Antworten waren simpel: Da SEEDAGRO eine Ergänzung und Abrundung des Firmenkonglomerats darstelle, hieß es, ginge es nicht wie bei anderen Zusammenschlüssen um die Erreichung einer neuen Größe und Erzielung von Einsparungen, sondern um die Ergänzung des Produktportfolios. Deshalb sei die Einsparung von Arbeitsplätzen nicht vorrangig.
Jemand stellte eine Frage zum Thema Gentechnik, was der Auftakt zu einer ganzen Reihe kritischer Fragen führte, die die ölige Eloquenz der Manager verdampfen ließ. Eine Journalistin fragte, ob man die Strategie beibehalte, alles, was wachse und lebe, möglichst zum Patent anzumelden? Helfiger reagierte darauf gereizt und keineswegs souverän. Man könne nicht das Feld den anderen Konzernen überlassen, meinte er. Man wolle schließlich Lizenzgebühren erhalten und nicht bezahlen. Außerdem sei die Patentierbarkeit in den einzelnen Bestimmungen der EU, in den USA und in anderen Ländern klar geregelt. Doch die Journalistin hakte nach. Sie wollte wissen, ob man GURT-Technologien (Gen-Usage-Restriction-Technology) oder TPS-Technologien (Technology Protection System) in der Forschung aktiv betreibe. Wieder wurde die Frage an Marco Helfiger verwiesen. Man halte sich an die Konventionen und internationalen Moratorien, antwortete Helfiger frostig, außerdem hätten die Konzerne und Forschungseinrichtungen beschlossen, die Entwicklung solcher Technologien auf freiwilliger Basis auszusetzen. Daran halte man sich. Im Übrigen sei das Thema sehr komplex. Deshalb nützten viele Firmen auch andere Methoden vor dem illegalen Nachbau geschützter Sorten, dabei nannte er vor allem die Hybridzüchtung von Pflanzensamen.
Hanna Losch schaute Krüger fragend an.
Krüger neigte sich zu ihr.
„Lassen Sie uns rausgehen, das war der Höhepunkt, jetzt kommt nichts Aufregendes mehr.“
Im Foyer schlug Krüger vor, eine Kleinigkeit zu Mittag zu essen.
„Ich habe Hunger wie ein Bär“; sagte sie. „Ich kenne hier um die Ecke einen Griechen, der kocht himmlisch gut, und die Gäste suchen sich die Zutaten direkt in der Küche aus.“
„Gute Idee“, sagte Krüger, „da können Sie mir gern noch ein paar Löcher in den Bauch fragen, damit ich richtig Hunger bekomme.“
17. Freiburg (Deutschland); Mai 2016
Krüger bog mit angenehmen Erinnerungen an der Ausfahrt Freiburg Mitte von der Autobahn A 5 ab. Er war gestern am späten Nachmittag von Frankfurt noch bis nach Baden-Baden gefahren und hatte im Hotel zum Bären übernachtet. Er hatte mit Hanna geschlagene vier Stunden beim Griechen gesessen. Hanna hatte ihm wirklich Löcher in den Bauch gefragt. Sie waren schnell beim Du angelangt, weil sie ihn mit ihrem Charme und ihrer Offenheit völlig überrannte. Beim Abschied gewann schließlich seine Vernunft die Oberhand. Jetzt nur keine schnellen Versprechungen, sagte er sich. Sie wartete traditionsgemäß von ihm auf ein Zeichen ihrer eintägigen Verbundenheit. Er aber war stur geblieben, und so war der Abschied ins Unverbindliche entglitten, wobei jeder dem anderen versprach, ihn gelegentlich anzurufen, wenn man zufällig in der Gegend sei.
Gerry Karthman war nicht irgendein Gastgeber, sondern ein Gastverführer alter Schule mit geschliffenen Manieren, der förmlich die aktuelle Verfassung seines Gastes erfühlte und ihn augenblicklich in den Zustand größtmöglicher Wonne versetzte. Und dann gab es geballte Unterhaltung oder, wenn man mit ihm arbeitete, geballte Informationen. Krüger konnte ihm stundenlang zuhören, nur unterbrochen von den Serviergeräuschen der Haushälterin, die unablässig für Nachschub mit feinsten Getränken, Kaffee, Kuchen und Gebäck sorgte.
Karthman wohnte direkt im Herzen von Freiburg mit Blick auf das mittelalterliche Münster und auf den dahinter aufragenden Schlossberg, den Hausberg der Freiburger. Die Städte Freiburg, Bern und Fribourg in der Schweiz waren von derselben Herrscherdynastie gegründet worden, den Zähringern, ein schwäbisches Adelsgeschlecht, welches lange Zeit im Mittelalter die Geschicke der Region Südbaden und Teilen der Schweiz bestimmte. Das Geschlecht starb mangels männlicher Nachkommen aus. Alle drei Städte hatten einen ganz ähnlichen Charakter und Baustil. Die Hauptstraßen waren von Arkadengängen, wunderschönen Stadttoren, Brunnen und bunten Zunftgebäuden geprägt.
Gerry Karthman empfing ihn bereits an der Tür mit einer väterlichen Umarmung. Trotz seiner siebzig hatte er immer noch die Statur eines Hünen.
„Kommen Sie rein, Marcel. Legen Sie Ihren Mantel ab und gehen Sie gleich durch in das große Arbeitszimmer.“
Das Arbeitszimmer war das größte Zimmer des Hauses. An einer Seite wurde es durch eine breite, tief angelegte Fensterfront mit einem großen vorgelagerten Balkon erhellt, der in diesem Frühjahr noch nicht benutzt worden war. Die anderen drei Wände bestanden mit Ausnahme des Kamins aus überquellenden Bücherregalen. Die Größe von Karthmans Schreibtisch glich einer Tafel für zehn Personen. Vor dem Fenster stand ein ovaler Arbeitstisch mit vier großzügigen Chefsesseln, von denen sich jeder wie ein gut sitzender neuer Anzug anfühlte, wenn man darin Platz nahm. An diesem Platz wurde gearbeitet und gegessen, außer man war mit Karthman in einem seiner Lieblingsrestaurants unterwegs, die fast alle im Kaiserstuhl oder im Schwarzwald lagen. Nach dem Abendessen nahm man konsequent vor dem Kamin Platz.
„Bitte nehmen Sie doch am Fenster Platz“, bat Karthman. „Wie geht es Ihnen, mein Lieber.“
„Blendend.“
„Wie geht es der werten Liebe, mein Teuerster?“, insistierte Karthman.
Es war sein altes Spiel, sich als der wohlmeinende Ältere nach Krügers Zweisamkeitszustand zu erkundigen.
„Der geht es auch ohne mich sicher sehr gut“, antwortete Krüger.
„Marcel, Sie sind ein richtig hartnäckiger Fall. Typisch Zeitgeistgetriebener: ohne die große Liebe, ohne Halt, ohne Kinder, ganz ohne Unterhaltsverpflichtungen. Dem gehen Sie einfach so aus dem Weg. Dabei macht es so viel Freude. Nehmen Sie sich ein Beispiel an mir. Ich habe sieben Kinder und hatte drei Ehefrauen. Da wird Ihnen nie langweilig. Und das eine oder andere Kind erinnert sich sogar an mich. Dafür arbeite ich gerne bis zu meinem letzten Atemzug. Ich habe etwas Lebendiges hinterlassen. Es wird Menschen geben, die sich an mich erinnern. Irgendwann werden meine Urenkel Fotos anschauen, und dann deutet man mit den Fingern auf mein Bild und sagt ehrfurchtsvoll: Das war euer Urgroßvater, er muss ein furchtbarer Mensch gewesen sein .“
Karthman lachte schallend und sah Beifall heischend zu ihm rüber.
„Ich denk noch drüber nach, Gerry“, sagte Krüger lächelnd.
Inzwischen wurden von der Haushälterin ein Körbchen mit frischen Croissants und eine Platte mit kleinen Happen gereicht. Dazu gab es frisch duftenden Kaffee und verschiedene Säfte. Karthman wuchtete sich in den Sessel gegenüber von Krüger. Er hatte seine Lesebrille aufgesetzt und goss Krüger frischen Kaffee ein.
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