„Sie haben mir eine knifflige Aufgabe gestellt“, sagte Karthman. „Wir haben in den letzten beiden Jahren eine besondere Konzentrationsbewegung bei den Agrarmultis beobachtet. Heute kontrollieren zehn Firmen fünfzig Prozent des Weltsamenhandels. Der Gesamtmarkt wird auf zwanzig Milliarden US-Dollar geschätzt. Das ist eine kleine Zahl, verglichen mit dem Gesamtumsatz im Pestizidsektor, der auf rund fünfunddreißig Milliarden US-Dollar geschätzt wird, oder verglichen mit den Umsätzen im Pharmamarkt, den man auf 305 Milliarden US-Dollar schätzt. Die eben genannten Zahlen sind die Umsätze pro Jahr. Man geht davon aus, dass ein Viertel des Umsatzes der Agrarmultis mit gentechnisch verändertem Saatgut erzielt wird, und das mit stark steigender Tendenz. Obwohl Übernahmen und Konsolidierung das Natürlichste der Welt sind, hängt doch von dieser Handvoll Firmen ein großer Teil der weltweiten Nahrungsmittelproduktion ab. Böse Zungen behaupten, die Firmenleitungen schauen zuallererst auf den Gewinn, den sie für die Eigentümer erwirtschaften, und nicht so sehr auf eine stabile und sichere Versorgung mit Nahrungspflanzen. Der Marktführer aus den USA beherrscht vierzig Prozent der weltweiten Samenproduktion bei Mais und fünfundzwanzig Prozent bei Sojabohnen. Vor allem, so sagen maßgebliche Stellen, hat die Konzentration einen Einfluss auf die Forschung.“
„Allerdings“, bestätigte Krüger. „Zumindest müsste der, der das Gegenteil behauptet, wegen gemeingefährlicher Naivität disqualifiziert werden.“
„Der Kauf von SEEDAGRO ist allerdings keine neue Konzentration“, fuhr Karthman schmunzelnd fort, „denn TELMAR CHEMIE & PHARMA war bisher nicht im Agrargeschäft vertreten, außer bei Pflanzenschutzmitteln. Der Zusammenschluss von Pflanzenschutz und Pflanzenzüchtung unter einem Dach ist ein unausweichlicher Trend. Bringt man noch das Thema Pharma dazu, dann ist man beim Pharming angelangt. Das wird die Zukunft. Doch zurück zu den Agrarmultis. Die wenigsten bestehen aus einer einzigen, kompakten und riesigen Firma, sondern aus einem weit verzweigten Netz mit Tochtergesellschaften in den Kernländern ihrer Haupttätigkeit. Oft sind diese Filialen aus Zukäufen entstanden und mussten mühsam auf Konzernkurs gebracht werden. Diese Filialen sind strukturell typisch für die Pflanzenzuchtbranche. Es ist quasi unumgänglich, wenn die Pflanzen nachprüfbar in dem Land des Inverkehrbringens gezüchtet werden. Das liegt an nationalen Sondervorschriften und Einzelgesetzen, die den Export oder Import von Pflanzen und Samen stark regulieren. Und seit Neuestem drängen die Chinesen auf den Markt, die in Zentraleuropa jeden Pflanzenzuchtbetrieb kaufen, den sie kriegen können, und dafür die verrücktesten Preise zahlen.“
„Das haben wir auch festgestellt, es sollen insgesamt schon neun Pflanzenzuchtunternehmen einen chinesischen Besitzer haben“, sagte Krüger.
„Sie sind leider nicht ganz auf dem letzten Stand, mein lieber Freund. Die Chinesen haben in den letzten fünf Monaten kräftig zugelegt und besitzen bis heute in Deutschland, den Niederlanden, in Frankreich und in Österreich dreiundzwanzig Pflanzenzuchtbetriebe!“
„Wieso stimmt denn unsere Recherche nicht?“, fragte Krüger.
„Weil Sie wieder am falschen Ende gespart haben und die Erhebung von Idioten gemacht wurde.“
„Aber da steckt bei den Chinesen bestimmt eine Strategie dahinter. Wer steuert das, und was will man damit bezwecken?“
„Das ist ja keineswegs die einzige Branche, in der die Chinesen wie verrückt einkaufen“, machte Karthman aufmerksam. „Meine Schlussfolgerung ist eine andere: Sie sind scharf auf das Know-how. Während China innerhalb von zehn Jahren durch Lohndumping ausländisches Produktions-Know-how ins Land pumpte und mit Brachialgewalt das gewonnene Wissen in Plagiate steckte, kann man Pflanzenzucht und Pflanzenvermehrung inklusive Know-how-Transfer nur im Ausland vor Ort betreiben. So verlangen es die meisten nationalstaatlichen Regelwerke und Gesetze. Und Sie können Gift darauf nehmen: Wenn sie das Know-how abgesaugt haben, werden sie die Firmen weiterverkaufen oder eingehen lassen.“
„Trotzdem muss diese Form der Know-how-Gewinnung zentral gesteuert werden“, sagte Krüger.
„Richtig. Dazu habe ich meine Fühler ausgestreckt. Die Quelle ist absolut vertrauenswürdig. Der Kauf der Pflanzenzuchtfirmen wird direkt von der chinesischen Regierung gesteuert.“
Krüger pfiff durch die Zähne.
„Sie meinen, die Regierung kümmert sich um den Erwerb von konkursbedrohten Pflanzenzuchtfirmen in Europa? Das ist ja fast unglaublich!“
„Ja, das ist verwunderlich und passt nicht so recht in mein Schema des Know-how-Spiels. Noch seltsamer ist die Vorgehensweise in den einzelnen Firmen selbst. Schaut man sich die Handelsregistereintragungen an, dann wurden in praktisch allen Fällen Chinesen als Geschäftsführer eingesetzt. Diese Leute müssen in Crashkursen fit gemacht worden sein für diese Jobs. Meine Erkundigungen ergaben, dass die Geschäftsführer - oft sind es zwei - alle verhältnismäßig gut Deutsch sprechen. Für Know-how Gewinnung brauche ich nicht so viele Betriebe kaufen. Aber das ist noch nicht das Wichtigste.“
Karthman machte eine Pause und goss Krüger neuen Kaffee ein.
„Ich schlage eine kleine Pause vor. Wenn Sie nichts dagegen haben, erledige ich ein Telefonat. Bitte fühlen Sie sich wie zu Hause. Mit meiner Haushälterin habe ich besprochen, dass wir um dreizehn Uhr Mittag essen. Und als Überraschung bereiten wir es gemeinsam zu. Das mögen Sie doch, oder? Für das Abendessen werden wir dann einen kleinen Ausflug unternehmen. Ich bin gleich wieder bei Ihnen.“
Als Karthman den Raum verließ, versuchte Krüger die Fakten, die er zum Teil notiert hatte, durchzugehen. Er schaute beiläufig auf sein BlackBerry. Auf dem Display war eine Meldung gespeichert. Eine dringende E-Mail von seinem Büro. Einer der EIO-Rechercheure teilte mit, dass SEEDAGRO zwei beim Europäischen Patentamt in München eingereichte Patente 2012 wieder zurückgerufen habe. Die Patentanträge seien allerdings nicht mehr vorhanden, da alle Unterlagen an SEEDAGRO zurückgegeben wurden.
Krüger nahm seinen Notebook aus dem Rucksack und begann aus seinen Notizen einen Bericht über die Besprechung mit Karthman zu schreiben.
„Ja, das liebe ich!“, sagte Karthman belustigt, als er den Raum wieder betrat. „Gibt es diese Woche die großen oder nur die kleinen Fleißkärtchen?“
„Wenn der Bericht heute Abend nicht bei Olaf Nefels auf dem Tisch liegt, gibt es einen Fußtritt“, sagte Krüger.
„So ist es auch recht“, antwortete Karthman süffisant. „Mitarbeiter müssen die Knute des Chefs vierundzwanzig Stunden im Nacken spüren, sonst fallen sie der Untugend der Faulheit zum Opfer. Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, ich wollte das Thema Chinesen abschließen und dabei etwas Wichtiges loswerden. Dieselbe voll vertrauenswürdige Quelle sagte mir, dass eine neue Import/Export-Firma für chinesische Lebensmittel in Weil am Rhein eine Art Koordinierungsstelle für die chinesischen Manager bildet.“
„Was könnte da koordiniert werden?“, fragte Krüger.
„Vielleicht verteilt man da die Aufträge, macht Preisabsprachen, oder es handelt sich um eine Art Befehlszentrale. Aber lassen Sie uns das Kapitel China jetzt schließen und gehen wir zu SEEDAGRO zurück.“
Karthman machte eine Pause. Er kniff die Augen zusammen und sah Krüger nachdenklich an.
„Hat SEEDAGRO Leichen im Keller? Was meinen Sie, Marcel?“
„Sicher fallen dort Späne“, meinte Krüger lakonisch.
„Ja, ja. SEEDAGRO hat vor einem Jahr einundfünfzig Prozent an einer ungarischen Firma übernommen, und diese besitzt eine Tochter in Rumänien. Rumänien ist das Armenhaus Europas. Es steht ganz oben auf der Korruptionsskala. Rumänien ist der Tummelplatz für Abenteurer. Dort fließt Geld hinein und notfalls Blut hinterher. Keiner kümmert sich um die Menschen und deren Rechte, von Gesetz und Ordnung ganz zu schweigen. Dort sind massenweise schwarze Industrien entstanden, die sich für ein paar Dollar an allen Umweltauflagen, Regeln und Bedenken vorbeikaufen. Ein Eldorado. Ein Dutzend Firmen führen Freilandversuche mit gentechnisch veränderten Pflanzen durch, die in anderen Teilen der Welt nicht genehmigungsfähig wären. Unausgereifte Pflanzenschutzmittel werden an Menschen, Tieren und Pflanzen ohne Rücksicht auf die Folgen getestet. Rumänien ist zum billigen Versuchslabor verkommen. Alle strömen wie besessen dahin und testen ihren Dreck. Es ist furchtbar. Und SEEDAGRO macht mit. Das ist sicher. Die EU muss endlich Maßnahmen ergreifen.“
Читать дальше