Kurz vor achtzehn Uhr wartete Krüger im Foyer. Brockmann kam überpünktlich durch den Haupteingang, um ihn abzuholen. Sie fuhren auf der Autobahn in Richtung Interlaken.
„Wohin fahren wir?“, wollte Krüger wissen.
„Wir fahren an der Aare entlang flussaufwärts in Richtung Thun. Dort werden wir in einem Schlossrestaurant am Thuner See unser Raclette genießen.“
Nach rund zwanzig Minuten verließen sie die Autobahn und fuhren nach Thun rein.
Es war ein klarer Abend, kaum Wolken am Himmel. Vom Ufer erschloss sich dem Betrachter eine fantastische Silhouette über dem See mit den höchsten, schneebedeckten Gipfeln des Berner Oberlandes - Eiger, Mönch und Jungfrau.
„Das ist nur der Anfang des Berner Oberlandes. Ganz rechts, der hohe kegelförmige Berg, das ist der Niesen, einer der schönsten Aussichtsberge des Berner Oberlandes“
Die Gartenanlage am See und um das Schloss war ein einziger Rausch von Blumen und Blüten.
„Ich glaube, ich kann mich hier nicht satt sehen“, sagte Krüger.
„Sie haben Recht, das fällt schwer. Und das ist auch das Gefühl der Menschen, die hier leben oder zu Besuch sind. Jeden Tag sehen sie ein neues Szenario derselben Wirklichkeit. Es ist aber auch eine unberechenbare Welt, mitunter gefährlich und zerstörerisch. Manche Gegenden, in denen sich hier der Mensch ausgebreitet hat, sind nur von der Natur geborgt. Man muss schon im Einklang mit ihr leben und gewappnet sein, wenn sie ihre Zerstörungswut zeigt.“
Krüger fröstelte ein wenig, weil die Schatten länger wurden und die Sonne hinter den Bäumen stand.
„Lassen Sie uns das Bergpanorama von drinnen genießen“, schlug Brockmann vor. „Leider ist es noch zu kühl, um draußen zu essen.“
Sie setzten sich an einen reservierten Tisch direkt am Fenster. Der Kellner nahm die Wünsche entgegen und deckte für das Raclette ein.
Nach dem Essen nahmen sie einen Kaffee, und Brockmann steckte sich seinen Zigarillo an.
„Ich lasse Jacques Durrance überwachen“, sagte Brockmann unvermittelt.
„Und? Ist dabei etwas herausgekommen?“
„Die Überwachung ist nicht offiziell, sie geht auf meine eigene Kappe.“
„Oh! Warum dieses Risiko?“
„Weil ich mir sicher bin, dass die beiden Manager etwas verbergen. Ich darf zwar ihre Post nicht öffnen oder ihre Telefone abhören, aber ich lasse observieren, was sie tun, mit wem sie sich treffen und wo sie hingehen. Dabei ist mir etwas Merkwürdiges aufgefallen.“
Über sein Gesicht huschte ein sibyllinisches Lächeln.
„Durrance flog schon zweimal auf die Cayman Islands.“
„Das kann viele Gründe haben, auch für Urlaub ist es kein schlechter Ort.“
„Aber es ist der Ort, um Geld zu parken, es zu verstecken, zu verteilen und verschwinden zu lassen. Durrance war verheiratet, seine Frau ist vor sechs Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen. Er fuhr also solo. Beide Male handelte es sich um eine Privatreise, und der Flug wurde von ihm bezahlt.“
„Sie meinen, er macht dort keinen Urlaub?“
„Ja, ich glaube, er verbirgt dort etwas vor uns. Aber mir sind ja leider die Hände gebunden.“
Wieder zog er an seinem Zigarillo.
„Ich glaube, Sie vertrauen mir“, sagte Krüger.
„Ja, das tue ich.“
„Soll ich meine Fühler auch auf die Cayman Islands ausstrecken?“
Brockmann grinste.
„Wenn Sie das für mich tun, denkt Nefels zum Schluss noch, dass ich Sie abgeworben habe.“
20. Beijing (China); Mai 2016
In den Räumen des zweiten Sekretärs des Zentralkomitees trafen sich General Yiang Won, stellvertretender Minister für Staatsschutz, General Fong Yu, Abteilungsleiter für Industriebeobachtung im Ministerium für Staatsschutz und Dr. Lin, Leiter des gentechnischen Pflanzenlabors in Qjing Dao. Es war das dreiunddreißigste ordentliche Geheimtreffen, das pünktlich jeden Monat stattfand. Die drei Männer trugen die gesamte Last zur Durchführung des Plans Atem des Drachen . Eingeweiht in das geheime Vorhaben waren auch zehn handverlesene chinesische Geschäftsführer von Saatgutvermehrungsfirmen in Europa, die man während der vergangenen drei Jahre gekauft hatte. Der Zeitplan für den Atem des Drachen wurde eingehalten, trotzdem blieb die Logistik unter der Last der Geheimhaltung eine immerwährende Herausforderung.
„Bitte fangen wir gleich an“, sagte General Yiang, als er den Besprechungsraum betrat. „General Fong, bitte, Sie haben das Wort.“
Fong benötigte nur dreißig Minuten für seinen erschöpfenden Lagebericht. Wer ihm zuhörte, war immer wieder begeistert. Von ihm ging eine Strahlkraft aus, die seine Zuhörer in den Bann schlug, und sein Charisma funkelte selbst aus dem profansten Satz.
Nachdem er zu Ende war, bedankte sich General Yiang.
„Danke, General Fong. Ich bin wirklich glücklich, wie Sie beide den Plan mit Leben füllen, und das ohne Fehl und Tadel. Wir sollten uns jetzt wie vereinbart um das Thema Risiko kümmern. Unser Plan hat trotz unserer exzellenten Planung Schwachstellen, die sich jederzeit verhängnisvoll auswirken können. Bitte sind Sie so nett und beschreiben kurz, welche Risiken aus Ihrer Sicht besonders kritisch werden können, und dann überlegen wir gemeinsam, wie wir das Risiko vermeiden können oder den Eintritt des Risikos abfedern.“
„Nur einen einzigen Lieferweg nach Europa zu haben, nämlich über Rotterdam, ist gefährlich“, sagte Dr. Lin. „Es muss uns niemand verdächtigen, aber ein Großbrand oder ein Streik kann unsern Plan durcheinanderbringen. Auch ein einziges Umladezentrum ist risikoreich. Auf der anderen Seite würde unsere Logistik enorm belastet, wenn wir einen weiteren Transportweg nach Europa erschlössen.“
„Sie haben Recht, Dr. Lin“, erwiderte Fong. „Das halte ich auch für ein Risiko. Aber vergegenwärtigen wir uns bitte, wann und wie oft wir den Transport benötigen! Das Risiko, dass bei einer parallelen Logistik weniger schiefgeht, wird nicht geringer, aber die parallele Logistik selbst, die Menschen, die wieder eingewiesen werden müssen, die vielleicht doch etwas weitererzählen und so weiter … das halte ich für ein größeres Risiko.“
„Wenn Sie es so betrachten, stimmt es natürlich, was Sie sagen“, antwortete Dr. Lin.
„Aufgrund meiner Überlegungen halte ich unser schnelles Vorgehen für ein Risiko“, sagte Fong. „In Europa hat man mittlerweile in den einschlägigen Kreisen unser Eindringen in das Saatgutgeschäft bemerkt. Es wird darüber gesprochen. Vielleicht misstraut man uns einfach! Wozu mischen Chinesen in diesem Geschäft mit? Was steckt wohl dahinter? Es kann also sein, dass wir gemieden werden und Geschäftspartner aussteigen oder lieber mit einem anderen Unternehmen Geschäfte machen. Zu großes Misstrauen kann schließlich dazu führen, dass jemand seine Nase zu tief in unsere Belange steckt. Dagegen gibt es nur ein Mittel: Öffnung. Wir müssen einen Tag der offenen Tür veranstalten und die Leute zu uns einladen und ihnen ganz offen zeigen, was wir tun und warum wir es tun. Wir müssen ihnen auch zeigen, dass wir am Leben in der Region teilnehmen. Schauen Sie heute die Struktur der chinesischen Mitbürger an, die in Europa leben: Sie kapseln sich ab und bleiben unter sich. Das ist aus meiner Sicht richtig, um unsere kulturelle Identität im Ausland zu bewahren, aber für unsern Plan ist es gefährlich.“
„Gut. Meine Herren“, sagte Yiang, „dann darf ich noch mein Scherflein beitragen. Was ist mit den Mitwissern in der Schweiz, denen wir die Technologie für viel Geld abgekauft haben? Könnte es nicht sein, dass die eines Tages zu reden anfangen? Trotz des vielen Geldes? Das halte ich für ein sehr großes Risiko!“
„Danke, dass Sie das ansprechen, General Yiang“, sagte Fong. „Ich habe die beiden Herren unter Beobachtung. Bisher boten sie keinen Anlass, der uns beunruhigen sollte. Aber wir planen ihr jeweiliges unspektakuläres Ableben in den nächsten zwölf Monaten ein.“
Читать дальше