„Sie haben kurz vor dem Tod meines Freundes Terry Hennings einen Umschlag bekommen. Darin waren wichtige Informationen, die er auch mir noch zukommen lassen wollte, wozu er aber vor seinem Tod leider nicht mehr kam. Es ging dabei um seine Experimente, die wir in einem gemeinsamen Labor weiterführen wollten. Wäre es Ihnen möglich, mir diese Informationen zurückzugeben?“
„Ich weiß nicht, was in dem Umschlag war. Den habe ich weitergegeben.“
„Darf ich fragen, an wen?“
„Nein, das dürfen Sie nicht.“
„Aber Sie können mir den Inhalt, der in dem Umschlag war, wieder besorgen?“
„Ich werde schauen, was sich machen lässt“, sagte Olga Gromskaja kurz angebunden.
„Wie lange brauchen Sie?“
„Hören Sie, ich kann Ihnen jetzt nichts versprechen. Wenn ich den Inhalt zurückbekomme, dann sage ich Ihnen Bescheid. Ich händige Ihnen aber das Material nur aus, wenn ich den Schulbescheid für meine Tochter schriftlich in Händen halte. Haben Sie das verstanden?“
„Ich danke Ihnen. Wir machen es genau, wie von Ihnen vorgeschlagen. Bitte schicken Sie mir eine kurze Nachricht auf mein Mobiltelefon, wenn Sie Genaueres wissen“
„Einverstanden.“
„Danke für Ihre Mühe und noch einen schönen Abend.“
Anschließend rief Krüger Brockmann an.
„Olga Gromskaja hat angebissen. Sie will mir die Informationen besorgen. Das Angebot mit der Schule für ihre Tochter hat sie überzeugt. Sie wird aber das Material erst aushändigen, wenn sie den schriftlichen Bescheid in der Hand hat, dass ihre Tochter eine Schweizer Schule besuchen darf.“
„Danke Herr Krüger, das haben Sie hervorragend gemacht. Die Frage, an wen sie es weitergegeben haben könnte, lässt sich sogar eingrenzen.“
„Aha! Was vermuten Sie?“
„Wir können ausschließen, dass der Empfänger in der Schweiz wohnte, denn dafür braucht man keine russische Botschaft als Übermittler. Ebenso können wir ausschließen, dass es jemand aus der Spionageszene ist, denn solch unprofessionelle Wege gehen die nicht. Es muss jemand in Russland gewesen sein, denn für Olga ist eine Weitergabe bis zum Empfänger in Russland einfach zu bewerkstelligen. Und es muss jemand gewesen sein, den Hennings privat kannte.“
„Meinen Sie, es macht Sinn, seinen früheren Bekanntenkreis zu recherchieren?“
„Nein, das ist unverhältnismäßig viel Aufwand. Warten wir erst mal ein paar Tage, ob Olga Gromskaja sich bei Ihnen meldet. Wenn sie nicht liefern kann, dann müssen wir selbst an seinen früheren Wohn- und Arbeitsstätten nachforschen.“
„Gut, Herr Brockmann, sobald ich etwas erfahre, rufe ich Sie wieder an.“
Krüger lief an den Bundeshausterrassen entlang und sog die Abendluft in sich auf, der die vielen Bäume und Blumen ihren eigenwilligen Duft dazu mischten. Mit der eigentümlichen Marzilli-Standseilbahn war er noch nie gefahren und probierte sie prompt aus. Langsam senkte sich seine Kabine in das untere Stadtviertel von Bern, das direkt an der Aare liegt und regelmäßig bei Hochwasser die Häuser und Gassen unter Wasser setzt. Einigen Häusern sah man die Strapazen an, die meisten sahen frisch renoviert aus. Er konnte bis ganz nach vorne an das Aare-Ufer gehen, beugte sich über das Geländer und sah nachdenklich auf die vielen Kiesbänke und das grauweiße Wasser, das sich seinen Weg durch den Schotter gebahnt hatte. Das Rauschen und Gurgeln des Wassers wirkte beruhigend. Sein Mobiltelefon klingelte. Es war Holmark.
„Hallo, Adrian“, meldete sich Krüger, der sich vom rauschenden Wasser wegdrehte.
„Hallo, Marcel. Ich bin fertig in Rom und auf der Fahrt zurück nach Den Haag.“
„Das ist ja eine tolle Überraschung. Dann treffen wir uns morgen Abend. Ich melde mich, wenn ich zurück bin.“
„Okay, dann bis morgen.“
Krüger setzte sich auf eine der vielen Parkbänke am Ufer und rief seinen alten Bekannten Joe McNorrish an. Er war Freiberufler und Ansprechpartner für die meisten EIO-Agenten, wenn es um Schwarzgeldanlagen ging. McNorrish meldete sich mit seinem gewöhnungsbedürftigen walisischen Akzent.
„Hier spricht Marcel Krüger aus Den Haag.“
Den Haag war das Erkennungszeichen für das EIO.
„Mein lieber Marcel, es gibt nur einen Marcel und einen Krüger. Schön, wieder was von dir zu hören. Wie ist das Wetter im Haag?“
„Ich bin noch in der Schweiz, Joe. Und ich brauche deine Hilfe.“
„Ah, wieder ein neues Nummernkonto eröffnet, nicht wahr? Ist aber auch nicht mehr das, was es einmal war, aber immer noch sicher. Leider achten jetzt auch die Schweizer Behörden sehr stark auf Geldwäsche. Sie tun das sehr diskret, und es gibt Fälle, in denen sie die Geldanlage verweigern. Also du bekommst dort kein Konto!“
„Joe“, sagte Krüger mit einem Lachen in der Stimme, „ich habe einen Verdächtigen, der eventuell Geld auf den Caymans zwischenlagert.“
„Du weißt, es ist nicht billig, das zu recherchieren.“
„Das geht in Ordnung.“
„Wie heißt der Knabe?“
„Jacques Durrance. Er war schon zweimal auf den Caymans und ist beide Male im Queen ’s Resort abgestiegen. Das erste Mal im November 2012, das zweite Mal im Dezember 2014.“
„Nicht schlecht“, kommentierte McNorrish. „Kann bis zu einer Woche dauern, Marcel. Und schlimmstenfalls kommt heraus, dass wir es nicht herausbekommen!“
„Ich weiß, aber wir müssen es versuchen.“
„Ich tu mein Bestes, wie immer. Ciao.“
„Ich weiß, Joe. Mach’s gut!“
22. Bern (Schweiz), Mai 2016
Krüger und Hanna Losch trafen zur selben Zeit, gegen acht Uhr morgens, im Frühstücksrestaurant ein, begrüßten sich und setzten sich an einen freien Tisch mit Blick auf den Bahnhofsvorplatz. Nachdem beide den ersten Frühstückshunger gestillt hatten, holte Hanna Losch ihre Unterlagen aus der Tasche.
„Ich habe alle Hausaufgaben gemacht und alles gelesen, was du mir gegeben hast. Kann ich von den Artikeln Kopien machen? Ich kann das unmöglich alles behalten“, sagte Hanna Losch.
„Du kannst alles behalten“, erwiderte Krüger.
„Danke! Jetzt bin ich erleichtert. Aber alles verstanden habe ich noch lange nicht. Seit meinem Gymnasium habe ich weder etwas über Biologie, Botanik oder Genetik gelesen und gehört, noch mich dafür interessiert. Leider wurden die naturwissenschaftlichen Fächer auch in der Schule nicht sehr spannend rübergebracht.“
„Dabei ist es oberste Pflicht der Schule, die Neugier zu wecken und keine Abscheu gegen die Wissenschaft zu züchten.“
„Der Zug ist für mich abgefahren und nun merke ich, dass diese Wissenschaft, von der ich nicht viel verstehe, mittlerweile eine riesige Industrie ist, die mir allerdings keine Ehrfurcht einhaucht, sondern eher Angst macht.“
„Weil wir, anstatt uns ein genaues Bild über die Sachlage zu beschaffen, wieder auf Halb- und Viertelwahrheiten hereinfallen, verbreitet von Leuten, die es auch nicht verstehen. Ich sage nicht, dass Pflanzenindustrie und Gentechnik keine Risiken bergen, aber sie stellen sich anders dar, wenn man die Materie versteht.“
„Aber vieles kennt man doch noch gar nicht genau, wenn ich die kritischen Artikel richtig verstanden habe.“
„Wenn Fachleute etwas nicht genau wissen, dann versuchen sie das unbekannte Terrain mit bekannten Methoden zu beleuchten, in der Hoffnung, dass aus der terra incognita eine terra cognita wird.“
„Aber warum wartet man nicht, bis man mehr weiß? Diese vielen gentechnischen Veränderungen an Pflanzen sind langfristig doch womöglich eine Katastrophe.“
Krüger hob die Schulter.
„Bisher ist trotz aller negativen Voraussagen jedenfalls keine Katastrophe eingetreten.“
„Aber wer weiß denn wirklich genau, ob das, was man da isst und trinkt, nicht doch schleichend die Welt verändert? Dann gibt es noch Patente auf Baupläne von Pflanzen, die die Menschen seit Jahrhunderten anbauen, und plötzlich sollen sie Geld für die Nutzung bezahlen? Das ist doch absurd! Mit diesem Verhalten gefährden wir unsere Existenzgrundlagen!“, schimpfte Hanna.
Читать дальше