Als er die Tür zu seinem Zimmer aufgeschlossen hatte, warf er seinen Koffer ohne ihn auszupacken auf das Bett und setzte sich in einen schäbigen Sessel am Fenster. Von draußen drangen leise Verkehrsgeräusche und einige Stimmen herein, aber im Vergleich zur sonstigen Atmosphäre im Madrider Stadtzentrum war es beinahe ruhig. Der erste Weihnachtsfeiertag schien die Menschen trotz des guten Wetters Zuhause zu halten.
Lustlos blätterte Fox in der Zeitung. Nichts Interessantes. Kein Hinweis auf ein Verbrechen in Barcelona. Da erst fiel ihm das Datum der Zeitung auf. 23/12. Natürlich, wieso sollte es auch ausgerechnet an einem Feiertag die neuesten Nachrichten geben? Verärgert warf er das Papier zu Boden und starrte missmutig aus dem Fenster. Er blickte auf eine typisch kastilische Häuserfassade. Plötzlich ergriff ihn ein Gefühl der Enge und Verzweiflung. Er musste raus hier, musste sich bewegen. Fox streifte sein Jackett über und verließ das Hotel. Vor dem Gebäude wandte er sich nach links, an der nächsten Abzweigung nach rechts. Hektisch blickte er sich um, ohne zu wissen, wo er sich eigentlich befand. An der Puerta del Sol lief er vorbei ohne zu registrieren, dass er am zentralen Platz der Stadt angekommen war. Fox ging immer weiter und weiter, kreuz und quer durch das Straßengewirr der Altstadt. Er wurde immer schneller, rannte bereits, als er die Paseo del Prado überquerte. Menschen starrten ihm verwundert hinterher, Hunde bellten ihn an, Autofahrer bremsten abrupt ab, wenn er vor ihnen die Straße überquerte. Er war wie in Trance.
Als Fox völlig außer Atem war, hielt er an. Einen Moment ging er in die Knie und holte tief Luft. Ihm wurde schwindelig, er merkte, wie sein Kreislauf rebellierte. Eine Sekunde war alles schwarz, dann richtete er sich auf und wankte zu einer Bank in seiner Nähe. Fox setzte sich und versuchte, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Langsam suchte er seine Umgebung ab. Wie es aussah, war er im Parque del Buen Retiro gelandet. Allmählich kam er wieder zu Atem. Wieso war er hier? Was hatte ihn so plötzlich aus der Fassung gebracht? Richtig, es war der Gedanke an den gestrigen Abend gewesen. Dabei war der Auftrag letztendlich erfolgreich ausgeführt. Der Spanier war tot und mehr hatte er nicht zu erledigen gehabt. Ob er dafür einen oder zwei Schüsse gebraucht hatte, spielte schließlich keine Rolle. Aber etwas anderes war passiert. Etwas, das er nicht wirklich zuordnen konnte. Es war der Blick dieser jungen Frau gewesen. Natürlich kannte er sie. Sie hieß Lavinia. Und wie aus einem Lexikon-Artikel hätte er eine Reihe von Informationen über sie aufzählen können, die ihm sofort ins Bewusstsein kamen. Aber da war dieses Gefühl, das sich mit den Informationen verband. Er hatte dieses Ziehen am gestrigen Tag zweimal verspürt. Bei ihrem Anblick war es noch um einiges stärker gewesen, als wenige Stunden zuvor. Fox hatte allerdings keine Erklärung dafür. Wenn er sich die Informationen über sie vor Augen rief, kamen ihm zwangsläufig Wörter wie Liebe , Heimat , Leben in den Sinn, aber ihm fehlte ein kognitiver Zusammenhang. Nur dieses Ziehen lieferte den Hinweis, dass es etwas Besonderes war. Die Verbindung passte nicht in sein übliches Schema. Sie war keine Gefahr, aber auch keine Kontaktperson oder kein Auftraggeber. Fox wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. Eine Erinnerung schoss ihm durch den Kopf. Krampfhaft versuchte er, sie festzuhalten. Es war eine Situation vor vielen Jahren. Er saß dieser jungen Frau gegenüber und sie lächelte. Ein Glücksgefühl kam in ihm auf. Dieses Lächeln... Die Erinnerung verflüchtigte sich und verband sich mit einer Idee, die gegen eine automatische Verdrängung durch sein Gehirn ankämpfte. Irgendwie schaffte er es, diesen Gedanken festzuhalten. Ich hatte ein Leben. Was hatte dieser Gedanke nur zu bedeuten? Fox versuchte, diese Idee weiterzuentwickeln, sie zu bearbeiten, ihr einen verständlichen Bezug zu geben. Ich hatte ein Leben. Es wollte ihm in diesem Moment nicht gelingen, aber die Idee hatte sich in seinem Kopf festgesetzt. Ich hatte ein Leben und ich war glücklich...
Lavinia Lichtsteiner saß mit leerem Blick in einem Straßencafé am Boulevard Saint-Michel in der Nähe der Sorbonne und stocherte mit einer Gabel in ihrem Fruchtsalat.
-„Komm schon, Lavi, du musst doch wenigstens etwas essen“, ermunterte sie eine blonde Frau, die ihr gegenüber saß. Ihr Name war Mareen Schuhmacher.
Draußen schlenderten vergnügte Passanten über den Bürgersteig und genossen die letzten hellen Minuten an diesem ersten Weihnachtsfeiertag. Die Sonne zeigte noch einmal ihre volle Pracht und ließ die Mansarddächer der Häuser am Boulevard aufleuchten. Mareen Schuhmacher hatte ihre beste Freundin vor einer knappen Stunde vom Flughafen Charles de Gaulle abgeholt und war mit ihr in dieses Café nahe der Universität gefahren, an der sie derzeit studierte. Noch in der Nacht hatte Lavinias Anruf sie aus dem Schlaf gerissen und die verzweifelte Stimme ihrer besten Freundin von den Geschehnissen in Barcelona berichtet. Es war Mareens Vorschlag gewesen, diesen Zwischenstopp in Paris einzulegen und nicht direkt von Barcelona in ihre westfälische Heimat zurückzukehren. Die Polizeibeamten hatten Lavinia nach Registrierung ihrer Daten offenbar die Ausreise aus Spanien erlaubt, was man durchaus als Glücksfall bezeichnen konnte. Nicht auszudenken, wenn ihre beste Freundin neben den Strapazen der allgemeinen Umstände auch noch selbst in den Mittelpunkt der Ermittlungen gerückt wäre.
Mareen fühlte sich hilflos, ja beinahe selbst verzweifelt, weil sie keine Ahnung hatte, wie sie ihrer besten Freundin in dieser Situation helfen konnte. Dass sie allein durch ihre Anwesenheit eine große Hilfe für Lavinia war, kam ihr dabei nicht in den Sinn. Sie wollte etwas tun, was die Situation verbesserte, aber wie sollte sie das anstellen? Konnte in dieser Lage überhaupt jemand etwas tun?
-„Er hat Àlex getötet“, murmelte Lavinia leise. „Er hat Alex getötet. Warum nur, Mareen? Wieso hat er das getan?“ Der Schock war ihr weiterhin anzumerken.
Mareen schluckte. Sie hatte keine Ahnung, was sie darauf antworten sollte. Aus ihrer Sicht gab es nichts, dass diesen Umstand erträglicher machen konnte.
„Er wollte mich heiraten. Àlex wollte mich wirklich heiraten.“
Mareen rückte mit ihrem Stuhl neben ihre Freundin und nahm sie mitfühlend in den Arm.
„Und ich habe nein gesagt...“ Lavinia begann zu schluchzen. „Verstehst du, was ich sage? Ich habe seinen Antrag abgelehnt. Ich habe ihn abgelehnt, weil ich Colin das nicht antun wollte. Ich wollte warten. Wegen ihm...“ Dicke Tränen kullerten über ihre Wangen. Mareen schwieg und umarmte sie noch fester.
Fox kehrte in der Dämmerung zu seinem Hotel in der Calle de Esparteros zurück. In den zurückliegenden Stunden war er weiter durch die spanische Hauptstadt geirrt und hatte den Gedanken verfolgt, der ihn so beschäftigte. Immer wieder kamen Erinnerungsfetzen aus seiner Vergangenheit zutage, mit denen er vorerst nichts anfangen konnte. Das Problem war einfach, den Erinnerungen einen Bezug im Gesamtzusammenhang zu geben. Er hatte keine Amnesie, denn wenn er darüber nachdachte, konnte er sich an jedes noch so kleine Detail aus seinem bisherigen Leben erinnern. Doch so sehr er auch versuchte, das Puzzle zusammenzuhalten, es wollte ihm nicht gelingen.
Die Luft im Zimmer war stickig, also öffnete er das Fenster. Draußen wehte ein leichter Wind. Fox klappte seinen Koffer auf und entnahm ihm eine kleine Kosmetiktasche. Einen Moment überlegte er, dann zog er den Reißverschluss zur Seite und wählte zwei Dosen sowie eine Spritze aus den Gegenständen aus. Die Spritze und die Dose mit der durchsichtigen Flüssigkeit waren nur für Notfälle gedacht, er hatte sie bislang nie selbst benutzt. Fox fragte sich, wann wohl die nächste routinemäßige Untersuchung der ESS-Mediziner bei ihm anstand. Es sollte nicht mehr allzu lange dauern. Wenn er richtig gerechnet hatte, war es nächste Woche so weit. Also steckte er die Spritze wieder in die Kosmetiktasche.
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