Lamondts Weg führte ihn am Institut vorbei. Aus einem ihm unerklärlichen Grund änderte er seine Entscheidung, lenkte seinen Wagen auf den für ihn vorgesehenen Parkplatz und stieg aus. Irgendetwas trieb ihn förmlich in das Gebäude hinein, eine Gefühlsregung, die er sich selbst nicht erklären konnte. Auf dem Weg über den Campus zur Tür bemerkte er das alte, schon leicht vom Rost angefressene Fahrrad von Shelly Wright.
Die junge Frau musste ein schweres Schicksal ertragen. Ihr Mann war seit zwei Jahren aufgrund eines schweren Unfalls querschnittsgelähmt und bezog nur eine kleine Rente. Lamondt wusste, dass sie deshalb gleich mehrere Putzstellen angenommen hatte, um den winzigen Etat etwas aufzubessern. Sie imponierte ihm, denn trotz dieser widrigen Lebensumstände hatte Shelly ihr freundliches Wesen nicht verloren.
In einer Ecke des Flurs sah er den Putzwagen stehen, den sie immer hinter sich herzog. Es machte auf ihn den Eindruck, als ob sie gerade erst gekommen wäre. Seltsam war nur, dass man so gar nichts von ihr hörte. Das hatte er noch nie erlebt, denn Shelly liebte es sehr, bei der Arbeit zu singen.
Ihn beschlich ein unheimliches, dunkles Gefühl, als er durch den Korridor ging.
»Shelly!?«, rief er mit lauter Stimme.
Er bekam keine Antwort. Schnell lief er von Zimmer zu Zimmer, aber sie war nirgends zu entdecken. Er wollte schon aufgeben, als ihm die Bibliothek einfiel. Zu seiner Verwunderung sah er den Schlüssel in der Tür stecken. Als er die Hand auf den Türdrücke legte, um zu öffnen, zögerte er aus einem ihm unklaren Grund …
Sein 6. Sinn warnte ihn.
Er befreite sich von dem Gedanken, öffnete und ging hinein. Im selben Augenblick fiel sein Blick auf den Shellys Rücken. Sie saß in einer seltsam verkrümmten Haltung an einem der Leseplätze. Ihr Oberkörper lag auf der Tischplatte, und ihr rechter Arm hing so weit herunter, dass er fast den Boden berührte.
Lamondt spürte, wie ein würgendes Gefühl in ihm hochstieg, als er mit einigen hastigen Schritten näher herantrat.
»Shelly!«, sprach er sie laut an und rüttelte ein wenig an ihren Schultern. »Was ist los mit dir?«
Als sie sich nicht bewegte, hob er behutsam ihren Kopf ein wenig an, sah ihr Gesicht und erschrak. Es hatte die Farbe von weißem Carrara-Marmor, und es lag ein Ausdruck darin, der ihn unwillkürlich schaudern ließ. Er griff nach ihrem Handgelenk und fühlte den Puls. Nichts. In ihr steckte kein noch so kleines Lebenszeichen mehr, jede Hilfe kam zu spät. Müde lehnte er sich gegen den Tisch und holte sein Handy heraus.

Kapitel 8
Seit der Beerdigung Robert McIntires und dem ungewöhnlichen Tod Shelly Wrights war knapp eine Woche vergangen. Abgespannt saß Prof. Lamondt an seinem Schreibtisch im Institut. Er sah auf die Uhr. Es war zehn nach vier, und er beschloss für heute Schluss zu machen, früher nach Hause zu gehen und sich einmal richtig auszuschlafen. Mit einem stillen Seufzen fuhr er den Laptop vor sich herunter. Die letzten Tage hatten ihm mehr zugesetzt als er sich selbst eingestehen mochte. Er hatte sich aufrichtig gefreut zu erfahren, dass es zumindest Lauren etwas besser ging. Sie war bereits gestern aus dem Krankenhaus entlassen worden und direkt im Anschluss, in Begleitung ihrer Mutter, zur Erholung nach Brighton gefahren. Kurz zuvor war sie noch bei ihm gewesen und hatte ihn über den Stand ihrer Arbeiten in Kenntnis gesetzt. Es war ihm aufgefallen, dass sie immer noch einen eigenartig verängstigten Gesichtsausdruck hatte. Gerade so, als ob sie einen starken Schock erlitten hätte, hatte er nachdenklich bei sich gedacht. Wenn nur die rätselhaften Todesfälle nicht gewesen wären – sie beschäftigten ihn mehr, als ihm lieb war. Drei Tote unter ungeklärten Umständen innerhalb weniger Tage. Und auch Lauren wäre nicht mehr am Leben, hätte ihre Mutter sich nicht gerade noch rechtzeitig gefunden. Es war schon sehr seltsam. Bei ihr und den Toten war ein jäher und hochgradiger Blutverlust festgestellt worden, und nichts hatte dessen Ursache erklären können. Auch die eingehende Obduktion der Leichen hatte nichts zur Klärung beigebracht.
Das schrille Läuten seines Telefons schreckte ihn in seinem Grübeln auf.
»Professor Lamondt!«, meldete er sich.
»Detective Inspector McGinnis, Scotland Yard!«, kam es knapp und präzise zurück. »Ich rufe Sie wegen der mysteriösen Todesfälle in Ihrem Institut an. Chief Inspector Blake und ich würden uns gern mit Ihnen darüber unterhalten. Wir benötigen dringend einige Auskünfte. Wäre es möglich, dass wir noch heute bei Ihnen vorbeikommen?«
»Aus London?«, erkundigte sich Lamondt verdutzt.
»Nein, wir sind bereits vor Ort«, erwiderte McGinnis, ohne ihm zu erklären, dass er und Blake eine kriminalistische Vortragsreihe in Edinburgh abhielten.
»Okay. Selbstverständlich«, bejahte der Professor höflich. »Es ist mir sogar sehr recht. Ich denke selbst dauernd darüber nach. Wenn es Ihnen möglich ist, würde ich mich freuen, wenn Sie gleich kämen. Es würde gut passen.«
»Vielen Dank, Professor«, entgegnete McGinnis. »Wir werden in etwa einer halben Stunde bei Ihnen sein.«
Ehe sich Lamondt verabschieden konnte, hörte er es ein Knacken in der Muschel. Sein Gesprächspartner hatte bereits aufgelegt.
Nervös zündete sich Lamondt eine Zigarre an. Er überlegte, was wohl der Grund für den Besuch der beiden Kriminalbeamten sein würde.
Ob sie vermuten, dass Robert McIntire, Tyrell Hawthorne und Shelly Wright keines natürlichen Todes gestorben sind? Ablehnend schüttelte er den Kopf. Nein, dieser Gedanke ist doch völlig absurd! Schließlich sind bei ihnen keine Anzeichen einer Gewaltanwendung zu erkennen gewesen. Und Indizien für einen Giftmord hat die Obduktion auch nicht geliefert. Er versuchte sich von den quälenden Gedanken zu befreien und kochte sich eine Tasse Kaffee. Den Grund des Besuchs werde ich ja bald erfahren.

Er musste nicht lange warten, denn bald darauf klopfte es an der Tür.
»Herein!«, forderte er den angemeldeten Besuch auf einzutreten. »Kommen Sie, meine Herren!«
Nachdem sie sich kurz vorgestellt und Platz genommen hatten, kam Chief Inspector Blake direkt zur Sache.
»Wie Sie wissen, wurden Obduktionen an den Leichen von Robert McIntire, Tyrell Hawthorne und Shelly Wright vorgenommen. Wir haben die Untersuchungen in Inverness durchführen lassen, von Dr. Witherspoon, um genau zu sein. Das Ergebnis war erschreckend, denn unser Pathologe musste eine völlige Blutleere als Todesursache in die Totenscheine eintragen.« Seine kühlen grauen Augen sahen den Gelehrten ernst an. »Miss Pritchards behandelnder Arzt hat ihn hinzugezogen.«
»Wir arbeiten sehr oft mit ihm zusammen.« Auf ein Zeichen von Blake übernahm McGinnis das Gespräch. »Witherspoon hat uns gestern über diese mysteriöse Angelegenheit berichtet und dabei erklärt, dass er das Gefühl nicht loswerde, an der Sache sei etwas faul.«
»Seiner Meinung nach sei ein Verbrechen nicht auszuschließen«, fuhr Blake fort, »auch wenn er nicht in der Lage wäre, für diese Behauptung auch nur den kleinsten Hinweis liefern zu können.« Er schwieg einen Augenblick. »Ich kenne Dr. Witherspoon schon seit langer Zeit. Er ist eine Koryphäe auf seinem Gebiet und bekannt für seine exzellenten Gutachten. Auch wenn es seiner Meinung nach fast aussichtslos sein dürfte, so wollen wir doch versuchen, dem Verdacht nachzugehen. Auf keinen Fall wollen wir diese Vorfälle isoliert betrachten. Dementsprechend gehen wir allen Fakten nach, auch wenn sie zunächst unbedeutend erscheinen mögen.«
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