»Wie ich schon Mrs. Pritchard sagte, stehen wir ärztlicherseits vor einem Rätsel. Als Ihre Mitarbeiterin eingeliefert wurde, hatte sie bereits die Hälfte ihres Blutvolumens verloren. Nur wenige Minuten später und sie wäre verstorben. Was uns verwundert, und wofür wir keinerlei Erklärung haben, ist der Umstand, dass weder äußere noch innere Verletzungen vorlagen.« Ratlos schüttelte der Mediziner den Kopf.

Nachdem die Leiche ihres Kollegen endlich freigegeben worden war, wurde er auf dem › Craigmillar Castle Park Cemetery ‹ beigesetzt. Die Familie hatte Prof. Lamondt gebeten, die Trauerrede zu halten. Schweren Herzens hatte er diese Aufgabe übernommen.
»Meine werten Damen und Herren«, Lamondt sah von seinem Pult aus in die Runde, »wir sind heute an diesem Ort und zu dieser Zeit zusammengekommen, um von Dr. Robert McIntire endgültig Abschied zu nehmen. Vor wenigen Tagen ist er im Alter von 36 Jahren, unter seltsamen, mysteriösen Umständen, von uns gegangen.
Es heißt, du sollst dir kein Bildnis machen. Dies gilt nicht nur für Gott. Ist es nicht bemerkenswert, dass wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, als Kollegen und Freund schätzen, am wenigsten darüber aussagen können, wie er ist?
Wir lieben und schätzen ihn einfach. Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in der Schwebe der Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen, in allen seinen möglichen Entfaltungen.
Wir wissen, dass jeder Mensch, wenn man ihn liebt, sich wie verwandt fühlt, wie entfaltet, und dass auch dem Liebenden sich alles entfaltet, das Nächste, das lange Bekannte. Vieles sieht er auch zum ersten Male. Die Liebe befreit es aus jedem Bildnis. Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertig werden, weil wir sie lieben, solange sie leben.« Seine Stimme stockte ein wenig, als er wieder von seinem Blatt, vor sich auf dem Pult, aufsah. »Sehr verehrte, liebe Familie McIntire, liebe Trauergemeinde! Das Unfassbare erfassen zu wollen, das Unbegreifliche, jetzt begreifen zu müssen, verlangt, den Tod Roberts anzusagen. Ja, er ist tot. Er lebt nicht mehr. Eine uns unbegreifliche Krankheit hat ihn uns allen genommen. Unerwartet ist sie eingetroffen und hat in seinem Dahinscheiden ein endgültiges Ende gefunden.
Ich muss das aussprechen, auch wenn es in dieser Nüchternheit rücksichtslos erscheint, denn es ist doch notwendig … Die Not wendend! … Für uns alle kommt es darauf an, seinen Tod zu realisieren. Seinen Tod nicht nur hinzunehmen, sondern schließlich auch anzunehmen. Ihn zu akzeptieren, zu ihm ja sagen zu lernen. Das zu lernen, das tun zu können, beansprucht Raum. Dazu bedarf es der Zeit. Das wird dauern.« Er machte eine kurze rhetorische Pause, und man merkte ihm an, wie schwer es ihm fiel diese Rede zu halten. »Da Ja zu sagen zu seinem Leben, schließt nun einmal auch das Ja zu seinem Sterben, zu seinem Tod ein. Der Tod, den ich Ihnen ansage, dessenthalben Sie an diesem Ort und zu dieser Stunde zusammengekommen sind, erscheint Ihnen am Ende doch erträglicher, sinnvoller und versöhnlicher, als die Ausweglosigkeit eines langen Leidens, welches ihm sicher zuteilgeworden wäre.
Wohl bemerkt, … das Ende erscheint so, weil wir nur die eine Alternative zum Tod kennen: Das Leben! Auf Roberts Leben zurückzuschauen, auf den, dessen Gestalt und Stimme Ihnen allen noch so gegenwärtig ist, geschieht zu früh, viel zu früh, muss aber geschehen, ist ebenfalls notwendig.
Dieses Lebens erinnern, sich dieses Mannes zu erinnern, ist ein schmerzhafter Prozess. Denn hier ist jetzt so viel Leben in der ganzen Fülle der Zeit gegenwärtig, auch plötzliche Krankheit und Sterben, und schon heißt es: Abschied nehmen müssen. Der Dichter Paul Celan hat einmal gesagt: Lege dem Toten die Worte ins Grab, die er sprach um zu leben. Die Traurigkeit, die über uns kommt, die Trauer, die uns lähmt, das revoltierende Nein zu diesem Lebensausgang werden laut.
Die Erinnerungen, die aufsteigen, die Gefühle und Empfindungen, die uns alle gefangen nehmen, sind stark. Erinnern dieses gelebte und am Ende gelittene Leben, bedeutet: Wiederholen! Heraufholen! Es heißt: Noch einmal!
Das soll nicht wertend und Bilder machend geschehen, als hätten wir das Leben wie einen in sich abgeschlossenen Gegenstand vor uns, so als hätten wir Überlebenden über ein gelebtes Leben zu urteilen, gar Prädikate zu erteilen. Wir sind mit ihm nicht fertig. Roberts Leben ist zu Ende, doch noch nicht fertig geworden, dass wir sagen könnten und sagen dürften, so oder so sei er, sei es gewesen.« Er blickte die Anwesenden an. »Ich möchte es anders herum versuchen. Das Leben ihres Mannes, liebe Mrs. McIntire, das sich Ihnen in den nahezu dreizehn Jahren Ihrer Ehe füreinander und miteinander erschloss, dem Sie in den eigenen und gemeinsamen Interessen Gestalt gegeben haben, ist von jener Hoffnung getragen gewesen, die auch in der Todesanzeige ihren Ausdruck fand: Gern miteinander alt zu werden.
Von Roberts Leben zu reden heißt: von ihrem Leben reden. Von den Stationen seines Weges, von Orten und den Menschen … und unterschiedlich im jeweiligen Erleben. Für Sie, liebe Mrs. McIntire, sind es die ...« Professor Lamondt sprach noch eine weitere Viertelstunde, ehe mit den Worten endete: »Das macht sein Gedächtnis aus, vor Gott und uns Menschen. Es mag uns als ein unabgeschlossenes Leben, ein Lebensfragment, erscheinen, das unser Gedenken beansprucht … und das sich allein Gott, dem Schöpfer und Richter, vollenden wird: seiner Gnade empfohlen. So hält sich im Abschiednehmen das Vergehende gegenwärtig und zugleich wird das Zukünftige am Vergehenden präsent.«
Er hielt inne, faltete seine Rede zusammen und steckte sie in das Jackett, ehe er vom Pult zurücktrat und dem Pfarrer Platz machte.
»Liebe Trauergemeinde«, begann der Geistliche, nachdem er dem Professor dankend die Hand geschüttelt hatte, »lassen Sie uns beten: Herr, unser Gott, Du gibst uns Menschen das Leben und dann nimmst Du es wieder. Du verbirgst es eine Zeit im Geheimnis des Todes, um es dereinst gereinigt ans Licht zu bringen als unser ewiges Leben. Sieh Du uns heute an und höre uns an diesem Ort, an dem wir jetzt versammelt sind, weil Robert McIntire von uns gegangen ist. Nimm Du unser Erschrecken, unsere Trauer auf in Deinen Frieden. Nimm alle unsere Gedanken über den, dessen Sterben und Tod wir beklagen und über uns selbst, hinein in die Erkenntnis Deines guten Willens mit ihm und uns. Herr, unser Gott, lehre uns bedenken, dass auch wir sterben müssen.« Er gab den Trauernden ein Handzeichen aufzustehen, und begann das Vater Unser, in welches alle einstimmten. Das Amen war gerade verklungen, als er die Anwesenden segnete: »Der Herr segne und behüte uns. Er erhelle unser Dunkel. Er lasse uns seinen Weg erkennen. Er habe mit uns Erbarmen und bleibe uns zugewandt.«
Nach Abschluss der Andacht folgten die Trauernden dem Sarg hinaus zum Gottesacker, warfen Blumen ins Grab, gefolgt vom einem Schäufelchen Erde und drückten der Witwe McIntires und den Eltern ihr Mitgefühl aus. Nach und nach löste sich die Gruppe der Trauernden auf. Einige von ihnen trafen sich noch zu einem gemeinsamen Essen in einem nahe gelegenen Restaurant. Auch Professor Lamondt war eingeladen, doch er hatte beschlossen sich, nach dem Abschluss des traurigen Ereignisses, auf den Heimweg zu machen, und entschuldigte sich entsprechend.

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