Im Anschluss an das Mahl schlenderte sie durch die Gassen der Altstadt des durch und durch malerischen Ortes. Die Häuser, fein herausgeputzt, bunt, verwinkelt, manche ein wenig schief, reihten sich aneinander, und keines glich dem andern.
Im überfüllten Yachthafen am Fuße der Stadt herrschte lebhaftes Treiben. Lina setzte sich auf die Kaimauer und ließ den Blick über die vielen weißen Segelschiffe hinweg zum Horizont schweifen.
War es richtig oder falsch gewesen, von zu Hause fortzulaufen, nicht besser als ein Kind in frühkindlicher Trotzphase? Sie stand auf und ging zurück in den Ort. Mit jedem Schritt wippte ein nagender Vorwurf an die Oberfläche. Wie hatte sie den Tag so unbedarft und leicht genießen können, ohne auch nur ein einziges Mal an ihr totes Kind zu denken? Was war los mit ihrem Mutterherz, wie hatte sie all die Stunden zugebracht und ihre Tochter vergessen können? Die Anklage schrie laut ins Trommelfell, knallte ins Ohr, um dann Besitz von Kopf und Schultern zu ergreifen. Die neue Stimme sagte nichts.
Zurück im Hotel schloss Lina mit zitternden Händen das Zimmer auf, das Kleid klebte am Körper, der Kloß im Magen wuchs und wuchs. Sie griff in den Rucksack und entnahm ihm zwei der erbärmlichen Pillen.
Unter anderen Umständen hätte es ein amüsanter Abend werden können. Gerrit jedoch hatte weder abschalten können noch anschließend in den Schlaf gefunden. Ihm graute vor dem Gespräch mit Fred. So lange man sich seinem Chef nicht widersetzte, marionettenhaft seine Anweisungen befolgte und seine Ideen umsetzte, wurde man mit Respekt und Anerkennung belohnt. Charmant konnte Fred sich nach der Familie erkundigen, man nahm ihm ein ernst gemeintes Interesse ab, und im Gespräch mit ihm gab er sich als kumpelhafter Freund. Ab und zu kam er zu ihnen nach Hause. Meist lud er sich selbst ein, aber Lina war jedes Mal einverstanden, weil Fred kurzweilig und unterhaltsam sein konnte und ihre Kochkunst lobte. Einmal waren sie auch bei ihm gewesen, in seiner todschicken Wohnung, in die er ständig wechselnde Freundinnen aufnahm.
Aber Fred, sein Chef, hatte eine kalte und harte Seite, die zu spüren bekam, wer ihm nicht bedingungslos folgte. Er verlangte Gehorsam von jedem, mit dem er zu tun hatte, absoluten Gehorsam. Manch einer, der es gewagt hatte, sich zu widersetzen, hatte schon das Handtuch werfen müssen. Wenn Gerrit seinem geplanten Einsatz ein Nein entgegenhielt, würde das nicht ohne Folgen bleiben. Aber sollte es ihn bekümmern? Im schlimmsten Fall könnten sie ihn feuern.
Trotz allem ging er am nächsten Morgen, punkt halb neun, mit einem eher mulmigen Gefühl hinunter in den Frühstücksraum, in dem es schon laut zuging. Am Buffet stand man Schlange, herbei eilende Kellner mühten sich um Nachschub. Er bestellte bei einem von ihnen einen Tee und setzte sich an den runden Tisch, an dem Fred bereits mit einigen Italienern Platz genommen hatte.
»Da bist du ja! Guten Morgen!«, begrüßte Fred ihn in sichtlich guter Laune. »Die Herren haben gestern auch im Cobara diniert und sich prächtig amüsiert. Ich hoffe, du hast eine gute Nacht gehabt, Gerrit. Gibt’s was Neues aus der Heimat?«
»Danke der Nachfrage.«
Sein Chef wandte sich den Italienern zu und stellte Gerrit als einen seiner fähigsten Köpfe vor. Die Herren nickten Gerrit anerkennend zu. Dann stand Fred auf, klopfte ihm auf die Schulter und sagte:
»Wir treffen uns in zwanzig Minuten draußen im Garten. Siehst du die kleine Sitzgruppe dort drüben?« Er zeigte auf eine Reihe prachtvoll blühender Oleanderbüsche unten im Park.
»O.k.«, sagte er. Als Fred verschwunden war, verdrückte er lustlos einen Toast und gab den anderen am Tisch zu verstehen, dass er kein Italienisch spreche. Bald verabschiedete er sich mit einer eindeutigen Geste, ging zurück auf das Zimmer, packte seine Sachen und brachte die Tasche zum Wagen. An der Rezeption ließ er sich eine Rechnung ausstellen, die er später erstattet bekommen würde.
Er dachte kurz darüber nach, ins Auto zu steigen und sich aus dem Staub zu machen, verwarf aber den Gedanken. Er würde Manns genug sein, das Gespräch erfolgreich durchzustehen.
Ohne Umschweife kam Fred zur Sache:
»Du wirkst nachdenklich, mein Junge! Ich geh mal davon aus, dass du gedanklich schon bei der Vorbereitung deines neuen Jobs bist, sehe ich das richtig? Deine Frau erwartet dich in frühestens zwei Wochen zurück. So lange hatten wir dich für die ursprünglich vorgesehene Reise eingeplant. Sie wird dich also nicht länger als gedacht entbehren müssen. Vermutlich. Kommen wir zu den Details.«
»Fred, warte. Ich habe mir die Entscheidung nicht leicht gemacht, glaub mir. Aber ich bin der falsche Mann. Ich werde Fehler machen, und das nutzt keinem was. Ich kann das nicht. Du weißt genau, dass Lina noch immer nicht über Priyas Tod hinweggekommen ist. Wenn sie erfährt, dass ich Testserien an Kindern durchführe…, nein. Kurz: Ich kann den Job nicht machen.«
»Aber, aber! Du brauchst doch keine kalten Füße zu kriegen. Das Unglück eurer Tochter ist tragisch, aber es hat doch mit unserem Projekt nicht das Allergeringste zu tun. Und ich versichere dir noch einmal: Die Bedingungen sind optimal, die Kontrollen lasch. Du kannst sofort beginnen. Es geht um die Phase eins, du brauchst also nur die Verträglichkeit des Präparats darzustellen, und zwar an den Standorten Nepal und Indien.«
»Noch einmal Kathmandu? Das geht auf keinen Fall. Außerdem ist es gegen die Prinzipien. Niemals ein zweites Mal am selben Ort.«
»Schon, aber wie viele Jahre ist es her, dass du dort warst? Es liegt so lange zurück, das zählt nicht mehr. Du hast natürlich die freie Wahl – es muss nicht Kathmandu sein. Aber du weißt selbst, dass es in den Städten einfacher ist als auf dem Land, wo die Probanden wesentlich verstreuter sein dürften.
Die Firma hat sich auf Indien und Nepal festgelegt, weil die Konditionen dort am günstigsten sind. Ob du durch die Dörfer ziehst oder in der Stadt arbeitest, das entscheidest du. Aber du musst schnell sein. Spätestens, wenn eine neue Welle der Grippe umgeht, die seit dem letzten Jahr die halbe Welt bedroht, wird man uns anflehen zu liefern. Die Firma hat genug investiert und will nun endlich mal Gewinn einfahren. Wie immer schläft die Konkurrenz nicht, das ist bekannt.«
»Fred, ich mein es ernst. Es geht nicht.«
»Gerrit, mein Lieber«, Fred beugte sich vor, »geht nicht gibt es gar nicht, das dürfte dir doch klar sein? Erstens willst du mich nicht enttäuschen, zweitens kannst du es dir nicht auch nur den Pfifferling leisten, drittens willst du doch deine großartige Frau nicht verlieren. Sehe ich das richtig?
Mich zu enttäuschen wäre allein schon ein dummer Fehler. Du weißt, zu welchem Tier ich werde, wenn sich mir jemand in den Weg stellt. Die Firma macht Druck, den gebe ich weiter, so einfach ist das. Basta! Die Firma hat Eile angemahnt und will so schnell wie möglich ein Mittel auf den Markt bringen, das die ganze Zulassung durchlaufen hat, bevor sich die Konkurrenz den Kuchen schnappt, und ich habe schnelle Ergebnisse versprochen. Die Studien kann man sich aber nun mal nicht aus dem Ärmel zaubern. Ohne sie läuft da nichts. Die Behörde verlangt eine saubere Dokumentation über Teilnehmer, Vergleichsprobanden und so weiter, du kennst das. Fertig.«
»Fred, sieh doch, ich…«
»Und vergiss nicht«, fuhr sein Chef dazwischen, »die Kredite, die wir dir großzügig und ohne jegliche Rückversicherung gegeben haben, als du auf dem Trockenen gesessen hast, die würde die Firma bei einem Nein auf der Stelle fällig stellen. Versteht sich von selbst. Wir haben auf alles den Daumen drauf, das sollte dir nicht entfallen sein, auf dir, deiner armseligen Existenz, auf deinem Haus, das längst nicht mehr deins ist. Letzteres wäre schneller weg, als du vor die Tür treten kannst. Und der Haufen Schulden wäre noch immer da. Und deine Rosalina würde sich abwenden von den Lügen, denen sie jahrelang aufgesessen ist. Wir würden ihr eine Geschichte präsentieren, die weitaus glaubhafter ist als das zerknirschte Gestotter eines schwindelnden Gatten.
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