Benny verstaute den Fund in eine Plastiktüte und versteckte ihn unter seine Matratze. Endlich! Endlich hatte er einen Anhaltspunkt. Er würde Ann-Kathrine finden. Die Praktikantin von damals, die ihn an Mama und Papa übergeben hatte. Man fand jeden auf der Welt. Endlose Male hatte er mit Mama darüber diskutiert. Sie hielt es für ausgeschlossen, Ann-Kathrine jemals aufzutreiben. Er aber würde es schaffen. Irgendjemand von denen, deren Personalbögen unter seiner Matratze lagen, würde sie zu ihm führen. Und vielleicht würde er endlich in Erfahrung bringen, woher er wirklich stammte.
Nachdem am Abend alle Arbeiten erledigt und die Kinder in ihren Betten allmählich zur Ruhe gekommen waren, nahm er die Tüte aus dem Versteck und lief hinüber in den Park, wo Aruna bereits auf ihn wartete.
»Nimm alles raus, was in die Jahre 1994 bis 1997 fällt. Ich bin 1996 geboren, jedenfalls hat man mir das gesagt. Alle, die eine Weile vorher und nachher im Waisenhaus gearbeitet haben, könnten vielleicht etwas über mich wissen, oder über Ann-Kathrine.«
»Hat deine Mutter diese Dänin getroffen oder kennt sie sie auch nur vom Hörensagen?«
»Mama hat sie persönlich kennengelernt. Sie war sehr jung damals, so alt wie Ann-Kathrine. Sie müssen sich auf Anhieb gut verstanden haben. Deswegen war Mama auch so erstaunt, als der Kontakt plötzlich und ohne Abschied abgerissen ist.«
Es brauchte eine Weile, bis sie sich in den Dokumenten zurechtfanden. Eine Ann-Kathrine tauchte nicht auf. Ihren Nachnamen kannte Benny nicht. Schließlich hatten sie alle Papiere aus den vier in Frage kommenden Jahren aussortiert. Die Angaben zu den Personen waren zum Teil frei mit der Hand geschrieben, zum Teil waren sie in Formulare eingetragen. Eine Systematik konnte Benny nicht erkennen.
»Wir schauen alle noch einmal durch«, sagte er, »vielleicht ist der Vorname nur abgekürzt.«
»Hier ist sie, schau doch! Das muss sie sein! Mit vollem Namen: Ann-Kathrine Sörensen, unterschrieben am 15. September 1995. Geburtsdatum, Praktikantin mit Bescheinigungswunsch für ein Medizinstudium, eine Adresse in Dänemark, Kopenhagen.«
»Hier ist noch ein Name, Yamu, ein nepalesischer Name, sie hat zur selben Zeit hier gearbeitet und war als Köchin angestellt.«
Aruna zeigte ihm den Bogen. Er war im Gegensatz zu den Formularen der ausländischen Praktikanten in der Landessprache ausgefüllt.
»Wir fotografieren sie alle ab.« Benny zückte sein Smartphone.
»Das brauchst du nicht. So wie es in Rons Büro ausgesehen hat, glaube ich nicht, dass er jemals wieder in die Kiste guckt.«
»Wie du meinst. Wahrscheinlich hast du Recht. Andererseits: Wenn jemand die Papiere bei mir findet, stehe ich verdammt blöd da.«
»Dann los. Ich halte sie, und du knipst sie ab.«
»Genug für heute?», fragte Aruna anschließend, »gehen wir noch etwas spazieren?«
»Ich weiß nicht. Lass uns das verschieben. Ich brenne darauf, in ein Internetcafé zu gehen und weiter zu machen. Wer weiß, vielleicht kann ich noch heute Abend etwas herausfinden.«
»Soll ich dich begleiten?«
»Nicht nötig. Aber wenn ich etwas Neues weiß, sag ich Bescheid.«
»Dann viel Erfolg. Bis morgen.«
Er winkte ihr hinterher und ging zielstrebig zurück in die Stadt. Plötzlich stupste ihn jemand von hinten an.
»Ich komme doch mit dir.« Benny lächelte. Internetshops gab es nahezu an jeder Straßenecke. Um diese Zeit waren sie allerdings sehr voll. Sie fanden einen, in dem nur zwei Jugendliche saßen, die skypten.
»Meinst du wirklich, du kannst Ann-Kathrine oder eine von den anderen auf diese Weise auftreiben? Es sind mindestens achtzehn Jahre seitdem vergangen!«
»Ich muss sie finden. Und ich werde sie finden. Sie kann doch nicht vom Erdboden verschluckt sein.«
Sie meldeten sich an einem der Rechner an. Benny tippte Ann-Kathrine Sörensen ein. Es gab zwei Einträge. Ein Verlag würdigte zu diesem Namen eine dänische Schriftstellerin, die im Dezember 2005 verstorben war. Der zweite Link betraf eines ihrer Werke. Fehlanzeige. Das Alter passte nicht, und dass eine ehrgeizige Medizinstudentin zum Bücherschreiben gewechselt haben sollte, erschien ihnen wenig plausibel.
»Vielleicht hat sie geheiratet und den Namen ihres Mannes angenommen?«, gab Aruna zu bedenken.
»Schon möglich. Aber dann wird es noch schwieriger, sie zu finden. Verdammt, so viele Ann-Kathrines kann es in Dänemark doch nicht geben.«
Sie versuchten es weiter. Nichts. Kein Treffer.
»Verflucht. Gibt es denn niemanden, der mit ihr Kontakt gehabt hat und den es noch gibt?«
»Im Waisenhaus jedenfalls kennt sie niemand mehr, dort sind alles neue Leute. Selbst der Chef ist erst seit zehn Jahren da und kann sie deshalb nicht getroffen haben.«
»Vielleicht sollten wir es in einem der Krankenhäuser versuchen. Mama hat erzählt, dass Ann-Kathrine damals zum Krankenhaus gefahren ist, um Medikamente für mich zu besorgen. Vielleicht kommen wir da weiter.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Es ist zu lange her, das bringt nichts. Was ist mit den anderen von damals? Die Frau, die in der Küche gearbeitet hat, stammt immerhin hier aus dem Land. Da ist die Wahrscheinlichkeit noch eher gegeben, sie zu finden.«
»Genau. Ich bin so aufgeregt, mir fällt so etwas gar nicht ein. Hier, Yamu Roshna, Kathmandu. Tipp mal ein.«
Kein Treffer.
»Wir machen es anders. Vielleicht bekommen wir ein paar Tage frei. Wir klappern all die Adressen ab, die wir in der Stadt oder in der näheren Umgebung erreichen können, und wenn wir damit fertig sind, zeige ich dir das Gebirge, wenn das Wetter noch eine Weile klar und trocken bleibt.«
»Das ist eine super Idee. Immerhin kannst du dich mit den Leuten verständigen. Danke, Aruna.«
Sie verbeugte sich ein wenig. »Ich mache das sehr gern für dich. Ich muss nur vorher mit meinem Vater sprechen. Ich hoffe, er lässt mich mit dir gehen.«
Schließlich verabschiedeten sie sich voneinander und beschlossen, den Chef um ein paar freie Tage zu bitten, wenn Arunas Vater seiner Tochter grünes Licht geben würde.
Lina schreckte aus ihrem unruhigen Schlaf auf, als die Wanduhr vier schlug. Schluss mit all der Erbärmlichkeit, raunzte sie. Schluss mit diesem erbärmlichen Zimmer, Schluss mit dem erbärmlichen Leben, Schluss mit den erbärmlichen Pillen. Sie wollte es versuchen. Sie würde einen Schlussstrich ziehen unter den quälenden Kreislauf ununterbrochener Selbstanklage. Ihre Tochter würde nicht zurückkommen, auch wenn sie es sich noch so sehnlichst wünschte. Ihr ganzer zusammengeballter Wille würde es nicht schaffen, das Mädchen je zurückzubringen.
Sie nahm ihren Rucksack, bezahlt hatte sie schon am Abend, und schlich barfuß aus dem Haus. Als sie in ihrem Auto saß, atmete sie tief durch. Sie brauchte einen Plan.
Du brauchst überhaupt keinen Plan ! Überrascht nahm sie zur Kenntnis, dass sich in ihr eine Stimme regte, die sich ihr zu widersetzen wagte. Sie startete den Motor und fuhr los, aber nur wenige hundert Meter später machte sie vor einem öffentlichen Meerwasserschwimmbad wieder Halt. Jetzt war es in Kathmandu früh am Vormittag und günstig, um mit Benny zu sprechen. Sie stieg aus und kramte nach dem Handy. Wo hatte sie es bloß verstaut? Nachdem sie den kompletten Inhalt ihrer beiden Rucksäcke ausgeleert und alles durchwühlt hatte, gestand sie sich ein, dass sie es nicht bei sich hatte. Was sollte sie nur ohne ihr Handy machen? Niemand konnte sie erreichen! Und umgekehrt war es auch nicht besser. Außer der Nummer zu Hause hatte sie keine einzige andere im Kopf. Ein kurzer Gedanke an Umkehr durchfuhr sie.
Nein , sagte die unbekannte Stimme, Benny vermisst dich nicht, es geht ihm gut. Es geht ihm sogar viel besser, wenn er seine klammernde Mutter nicht im Nacken spürt.
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