Die Auswertung der Überwachungskameras ergab folgenden Tathergang: Das Opfer stand am Gleisrand. Als der Zug einfuhr, trat eine zweite Person aus dem Schatten des Warteraumes. Es fand ein kurzes Gespräch zwischen den beiden Männern statt. Dann stieß der Täter sein Opfer vor den Zug. Da sich auf dem Gleis um diese Uhrzeit fast keine Leute befanden, blieb die Tat unbemerkt. Der Täter nahm das Gepäck des Opfers mit und verließ das Bahnhofsgebäude. Er war auf keiner der Aufnahmen auch nur annähernd zu erkennen. Auch das Opfer konnte nicht mehr identifiziert werden. Der Vorfall stand montags in der Zeitung und war dann schnell wieder vergessen.
Bruder Marcel rief die Mitglieder des inneren Kreises der Santen am Montagmorgen zu einer wichtigen Besprechung zusammen. Bis auf den Abt waren alle schnell eingetroffen.
„Meine Brüder, ich habe sehr schlechte Nachrichten.“
Bruder Nicholas deutete an, dass es wohl sinnvoller wäre, noch auf den Abt zu warten. Doch Bruder Marcel sprach weiter.
„Das Warten würde sich nicht lohnen“
Dann begann er zu erzählen. Von seinen ersten Vermutungen, seinem ersten Verdacht und der Bestätigung. Und von seiner Aktion in der letzten Nacht. Er schloss mit den Worten:
„Ein Sante verlässt seinen Orden nur auf einem Weg. Diesen Weg ist er gegangen.“
Nach den Worten von Bruder Marcel herrschte lähmendes Schweigen. Als erster fasste sich Bruder Nicholas.
„Das sind ungeheuerliche Vorwürfe. Ich kann nur hoffen, dass du sie beweisen kannst.“
Bruder Marcel deutete auf die beiden Gepäckstücke.
„Überzeugt euch selbst. Danach könnt ihr euch ein Urteil über meine Tat bilden.“
Bruder Rolando und Bruder Nicholas untersuchten die Reisetasche und den Aktenkoffer. Doch das, was sie fanden, war mehr als eindeutig. Diverse Reisepässe und Ausweise auf den Namen Rodrigo de Silva. Das Interessanteste war jedoch ein Notizbuch, geschrieben in der alten Sprache der Santen. Während sich Bruder Nicholas mit dem Notizbuch beschäftigte, recherchierte Bruder Rolando im Internet nach dem Namen Rodrigo de Silva. Schnell wurde er fündig. Über eine französische Maklerfirma hatte ein Rodrigo de Silva vor einem halben Jahr ein Luxusanwesen in Argentinien erworben. Kaufpreis rund zehn Millionen Dollar. Die Adresse stimmte mit den Daten in dem argentinischen Pass überein. Auch Bruder Nicholas fand sehr schnell interessante Informationen. Auf diversen Konten in verschiedenen, meist südamerikanischen Banken waren insgesamt fast einhundert Millionen Dollar verteilt. Alle relevanten Daten standen codiert in dem Notizbuch. Damit waren auch die letzten Zweifel erloschen. Bruder Marcel wurde von allen Mitgliedern des inneren Kreises einstimmig entlastet. Er wurde mit der Aufgabe betreut, alle Vorbereitungen für die Wahl eines neuen Abtes zu treffen.
Durch die aktuellen Ereignisse geriet die Überwachung der Vitrine mit den beiden Versen der Schöpfung ein wenig ins Hintertreffen. Vielleicht wäre Bruder Nicholas aufgefallen, dass einer der Besucher eine gewisse Ähnlichkeit mit *Jack the Hacker* hatte. Und vielleicht hätten die vor dem Museum postierten Sicherheitsleute diese Person weiter überwachen können.
In dem Londoner Kloster der Evanisten fand die tägliche Besprechung statt. Alle Sakramentonen und der Abt waren anwesend. Auf der Tagesordnung standen zwei Punkte. Schwester Sonja schlug vor, Aleyn in die Geheimnisse des Sakraments einzuweihen. Er hatte bereits mehrmals, zuletzt bei ihrem Einsatz in Berlin, bewiesen, dass er ein mehr als zuverlässiger Mitarbeiter war. Jeder der hier Anwesenden kannte ihn gut. Es war schon lange geplant, eine Gruppe von Mitarbeitern zu bilden, die direkt unter den Sakramentonen angesiedelt werden sollte. Laut den alten Schriften sollte sogar neunzehn Ordensmitgliedern das Geheimnis des Sakraments bekannt sein. Aleyn wäre dann das erste Mitglied der neuen Gruppe. Voraussetzung war allerdings die Bereitschaft, sich der Prüfung durch das Sakrament zu unterziehen. Der Antrag wurde einstimmig befürwortet. Schwester Sonja wurde damit beauftragt, die Einzelheiten mit Aleyn abzuklären.
Der nächste Punkt wurde vom Abt persönlich vorgetragen. Es ging um Jack. Seine Verletzung war so gut wie verheilt. Im Normalfall wäre ihm nun die Erinnerung an das Kloster unter Hypnose wieder genommen worden und man hätte ihn irgendwo in Berlin wieder abgesetzt. Nach Meinung des Abts sprachen aber zwei wichtige Gründe gegen diese Vorgehensweise. Erstens hatte man Jack, gegenüber den Santen, für tot erklärt. Wenn sie durch Zufall erfahren würden, dass er noch lebte, könnte er für die Evanisten ein Risiko darstellen. Der zweite Grund war die extrem auffällige Reaktion Jacks auf das Sakrament. Das ließ dem Abt keine Ruhe. Deshalb würde er Jack gerne zum Sakrament führen. Vorsichtshalber sollten Schwester Sonja und Bruder Bernard ihn dabei begleiten. Da alle sehr neugierig auf Jacks Reaktion waren, sollte dieser Test noch am gleichen Nachmittag stattfinden. In der Technikzentrale würden Bruder Wolfgang und Bruder Andreas die ganze Sache beobachten.
Als der Abt Jack diesen Vorschlag machte, war der sofort damit einverstanden. Man traf sich am Nachmittag in Jacks Zimmer und ging zusammen durch das unterirdische Labyrinth in Richtung Sakrament. Nach einigen Metern bekam Jack starke Kopfschmerzen und bat um eine kleine Pause. Doch nach kurzer Zeit waren die Kopfschmerzen schlagartig verschwunden. Langsam gingen sie weiter. Plötzlich blieb Jack stehen und ging dann zwei Meter zurück. Er deutete auf die nackte Felswand:
„Hier teilt sich der Kraftstrom. Der größere Teil kommt aus der Wand. Auch wenn es sich lächerlich anhört, aber es ist so.“
Der Abt ging langsam weiter in Richtung Sakrament.
„Jack, wenn du Schwierigkeiten hast weiter zu gehen, können wir jederzeit eine Pause einlegen. Oder wir brechen die ganze Sache ab. Das ist einzig und allein deine Entscheidung.“
„Nein, ist schon in Ordnung. Seit wir an dem Punkt vorbei sind, wo sich der Kraftstrom, oder wie du sagst, die Aura des Sakraments, geteilt hat, geht es mir wieder gut.“
„Wie du meinst. Wir sind gleich da.“
Obwohl der Hauptweg weiter ging, bog der Abt in einen unscheinbaren Nebenstollen ein. Dann standen sie vor einer einfachen Holztür. Keine Sicherheitsvorkehrungen, keine Tresortür und keine elektronischen Überwachungseinrichtungen. Nur eine einfache Holztür. Jack war ein wenig irritiert.
„Dahinter ist euer Sakrament? Ich hätte jetzt mit etlichen Sicherheitsvorkehrungen gerechnet. Aber nicht mit einer alten Holztür.“
Der Abt sah Jack mit einem undefinierbaren Blick an.
„Jack, es gab in unserer langen Geschichte sehr viele Menschen, die diese Tür nicht sehen konnten. Für sie war hier nur eine einfache Felswand. Unsere Sicherheitsvorkehrungen enden hier. Ab jetzt übernimmt das Sakrament selbst seinen Schutz. Bruder Bernard wird nun die weitere Leitung übernehmen. Er ist der eigentliche Verantwortliche für das Sakrament.“
Bruder Bernard nickte dem Abt kurz zu und wollte die Tür zum Sakrament öffnen. Doch dann wandte er sich zu Jack um.
„Bitte versuch du, die Tür zu öffnen.“
Jack zuckte mit den Schultern, drückte die Klinke herunter und öffnete die Tür.
„Ein wenig Öl auf die Scharniere könnte nicht schaden.“
Dann bemerkte Jack die erstaunten Blicke seiner Begleiter. Bruder Bernard sah Jack fassungslos an.
„Soweit ich weiß, konnte diese Tür noch nie von jemandem geöffnet werden, der nicht zuvor die Prüfung des Sakraments bestanden hatte.“
Jack zuckte wieder mit den Schultern und wollte den Raum betreten. Doch Bruder Bernard hielt ihn zurück.
„Warte noch einen Moment. In diesem Raum funktioniert nichts, was auch nur im Entferntesten mit Strom zu tun hat. Auch keine elektrische Beleuchtung.“
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