Unser Problem ist, dass wir nicht wissen mit wem wir es zu tun haben. Darum müssen wir ihn aus der Reserve locken. Ihm einen Köder anbieten, den er nicht ignorieren kann. Wir werden die ersten zwei Verse der Schöpfungsgeschichte in einem Museum der Öffentlichkeit zugänglich machen!“
Einen Augenblick herrschte bestürztes Schweigen. Dann sprang Bruder Marcel auf.
„Das kann nicht dein Ernst sein. Wir bewahren dieses Wissen seit Jahrhunderten und jetzt willst du es einfach veröffentlichen? Bist du dir über die Tragweite deines Vorschlags im Klaren?“
„Ja, Bruder Marcel. Ich habe lange darüber nachgedacht. Der Text alleine ist bedeutungslos. Seine Brisanz entwickelt er erst zusammen mit dem alten Wissen. Wenn man die Bedeutung dieses Textes kennt. Das werden wir natürlich nicht veröffentlichen. Wir besitzen fünf Originale und fünf Kopien. Jeweils ein Original und eine Kopie stellen wir dem Museum zur Verfügung.“
Jetzt schaltete sich Bruder Nicholas in die Diskussion ein. Seit dem Einsatz in Berlin war er sehr wortkarg geworden.
„Du wirst Recht haben. Die nackten Texte sind harmlos. Schließlich ist der erste Vers bereits in kurzer Zeit von über tausend Leuten gelesen worden. Eine Reaktion erfolgte nur von denen, die über das entsprechende Hintergrundwissen verfügten. Ich nehme an, du meinst unser Museum in Brüssel? Dir ist bekannt, dass ich dort zum Vorstandsgremium gehöre?“
„Darauf beruht ein wesentlicher Teil meines Planes.“
„Ich weiß noch nicht, wie dein Plan genau aussieht, aber ich befürchte, dass er einen Fehler enthält. Kurz nachdem der erste Teil zweifach im Internet veröffentlich wurde, werden zwei alte Originale in einem Museum ausgestellt. Das stinkt nach einer Falle. Wir sollten unsere Gegner nicht unterschätzen.“
„Genau über dieses Problem habe ich sehr lange nachgedacht. Ich glaube aber, dass ich einen akzeptablen Lösungsansatz gefunden habe. Die Details müssen wir jetzt gemeinsam erarbeiten.“
Dann erläuterte Bruder Rolando seinen bisherigen Plan. Manches wurde verworfen, andere Details angepasst, aber nach einigen Stunden intensiver Arbeit entstand ein Plan, mit dem jeder einverstanden war. Man beschloss, dass er sofort umgesetzt werden sollte. Im einzelnen sah der Plan folgendermaßen aus: Eine nicht näher bekannte Person würde sich mit dem ägyptischen Museum in Brüssel in Verbindung setzen. Sein Ansprechpartner ist eines der Vorstandsmitglieder. Er erklärt, er hätte durch Zufall im Internet eine Collage gefunden, über die ein sakraler Text gelaufen sei. Dieser Text wäre ihm sehr bekannt vorgekommen. Sein Großvater hätte nach dem zweiten Weltkrieg aus Deutschland eine Kiste mit altertümlichen Tafeln mitgebracht. Seine Kriegsbeute. In dieser Kiste wären, neben den Tontafeln, Übersetzungen in lateinischer und altdeutscher Schrift. Daher kannte er diesen Text. Da diese Kiste schon seit Jahrzehnten auf dem Dachboden gestanden hätte, würde er dem Museum gerne zwei Tafeln zur Verfügung stellen. Sie sollten dort untersucht werden. Vielleicht besaßen sie ja einen gewissen materiellen Wert. Auf der Internetseite des Museums sollte so eine kurze Notiz über diesen Vorgang erscheinen und in der Fachpresse würde erwähnt werden, dass die zwei Tafeln für vier Wochen während der normalen Besuchszeiten besichtigt werden könnten. Die Vitrine sollte natürlich besonders geschützt werden. An dieser Vitrine würde eine Kamera angebracht, die jeden Besucher fotografierte. Diese Fotos würden direkt ins Kloster überspielt. Bruder Nicholas hätte dadurch die Möglichkeit, sich jeden Besucher anzusehen. Vielleicht erkennt er ja die beiden Leute aus Berlin wieder? Vor dem Museum sollten Leute aus der Sicherheitsabteilung postiert werden, die bei Bedarf sofort eingreifen könnten. Dann konnte man nur warten und hoffen.
Einzig Bruder Marcel fiel bei der Besprechung auf, dass der Abt sich nicht aktiv an der Diskussion beteiligt hatte. Er segnete die Aktion zwar ab, aber das war es dann auch schon.
Am nächsten Tag liefen die Vorbereitungen auf Hochtouren an. Nachdem man eine diebstahlsichere Glasvitrine mit der Kamera präpariert hatte, begaben sich der Abt und Bruder Rolando in die heilige Kammer. Dort wurden unter anderem auch die Tontafeln mit den Versen der Schöpfungsgeschichte aufbewahrt.
Diesen Zeitpunkt hatte Bruder Marcel abgewartet. Er schien der einzige zu sein, dem das veränderte Verhalten ihres Abts in der letzten Zeit aufgefallen war. Eigentlich war er dem Abt mehr als treu ergeben. Aber seit einiger Zeit hatte der Abt sich verändert. Da zu seinen Aufgaben auch die allgemeinen Arbeiten im Felsenkloster gehörten, besaß Bruder Marcel einen Generalschlüssel. Der passte auch zum Zimmer des Abts. Einen Moment zögerte er. Das was er jetzt vorhatte, war mehr als ein grober Verstoß gegen die Privatsphäre. Aber das Felsenkloster war seine Welt. Und er war überzeugt, dass jemand seiner Welt schaden wollte. Deshalb musste er handeln. Entschlossen betrat er das Zimmer des Abtes. Oft schon war er hier gewesen. Das, was er suchte, konnte nur in dem einzigen Schrank sein, der in diesem Zimmer war. Als er die Schranktür öffnete, fiel sein Blick sofort auf einen Aktenkoffer. Obwohl er sich nicht darüber im Klaren gewesen war, wonach er suchte, wusste er, dass er es gefunden hatte. Der Aktenkoffer enthielt Reisepässe und Ausweise von mehreren Staaten. Die Passbilder sahen dem Abt sehr ähnlich. Man musste sich nur den Bart wegdenken und die Frisur und Haarfarbe ändern. Einige Bündel mit Dollarscheinen passten zu dem Kofferinhalt. Ein Bahnticket der SNCB sah sich Bruder Marcel genauer an. Es war auf nächsten Sonntag datiert. Eine Platzkarte für den Nachtzug von Brüssel nach Rom. Die Daten notierte er sich. Dann stellte er alles wieder an seinen Platz und verließ das Zimmer. Er konnte es nicht glauben. Sein Abt wollte die Santen verraten. Seine Familie. Das konnte er unmöglich zulassen.
Freitags waren alle Vorbereitungen abgeschlossen. Die Vitrine mit den Tontafeln war aufgestellt, die Internetverbindung stand und vor dem Museum war ein Wohnmobil geparkt, indem die Sicherheitsleute der Santen als Einsatzreserve postiert waren. Auf der Internetseite des Museums und in diversen Fachzeitschriften gab es einen kurzen Bericht. Ab Samstag könnte jeder Besucher sich die beiden Tontafeln ansehen. Die Resonanz hielt sich allerdings in Grenzen.
Bruder Nicholas saß den ganzen Sonntag vor den Monitoren und sah sich die Leute an, die sich für die Tontafeln interessierten. Ansonsten kehrte Ruhe in das Felsenkloster ein. Es war schließlich Wochenende. Am späten Nachmittag entschuldigte sich Bruder Marcel bei dem Abt. Er würde sich gerne zurückziehen. Sein Rheuma mache ihm zu schaffen. Doch er ging nicht in sein Zimmer sondern in den Gartenpavillon. Dort zog er sich um und verließ das Felsenkloster durch eine kleine Gartenpforte. Nach einiger Zeit zog sich auch der Abt in sein Zimmer zurück. Auch er verließ das Kloster heimlich.
Am späten Abend betrat ein älterer Mann den Hauptbahnhof in Brüssel. Seine Kleidung war ziemlich altmodisch. Einem genauen Beobachter wäre aufgefallen, dass er einige Schwierigkeiten hatte, sich zu orientieren. Schließlich betrat er die Abfertigungsgleise für die Intercityzüge. An der Wagenstandanzeige hielt er noch einmal einige Minuten an und verschmolz dann in der Dunkelheit mit dem Wartehäuschen. Kurz bevor der Nachtzug nach Rom eintraf, betrat noch ein Reisender das Gleis. Er ging bis auf die Höhe des Warteraumes. Dann stellte er seine Reisetasche und einen Aktenkoffer ab. Über die Lautsprecheranlage wurde die Einfahrt des Zuges durchgegeben. Als der Zug einfuhr, trat die Gestalt aus dem Schatten und stellte sich neben den wartenden Reisenden.
„Hallo Bruder Abt. Ich wünsche dir eine gute Reise.“
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