Endlich können sie hinter einer Felsnische in Deckung gehen und sind vor den Pfeilen des Knochenmanns sicher. Vorsichtig entfernt Primo den Pfeil aus der Schulter seines Freundes. Die Wunde ist glücklicherweise nicht sehr tief.
„Nächstes Mal sollten wir einen Bogen mitnehmen“, meint Kolle.
„Gute Idee“, stimmt Primo zu. „Nur schade, dass ...“
Eine Explosion unterbricht ihn. Die ganze Schlucht erzittert unter der Wucht. Primo spürt einen Windhauch im Gesicht.
„Das kam von dort“, sagt Kolle und zeigt auf den Felstunnel, der zur zweiten Tiefenschlucht führt.
Primo zieht sein Schwert und geht vorsichtig weiter. Ein Nachtwandler wankt ihnen entgegen, doch der ist mit zwei Schwertschlägen schnell erledigt.
Als sie sich dem Ende des Gangs nähern, bleibt Primo stehen. Ein seltsames, rhythmisches Geräusch erklingt aus der zweiten Tiefenschlucht am Ende des Gangs, überlagert mit metallischem Knirschen und dem Summen des Netherportals. Die Geräusche kommen Primo seltsam vertraut vor, obwohl er sich nicht erinnern kann, wo er sie schon einmal gehört hat.
„Was zum Nether geht da vor?“, fragt Kolle.
„Ich habe keine Ahnung.“
Sie schleichen durch den von Fackellicht nur schwach beleuchteten Felsgang bis zur Kante der zweiten Tiefenschlucht, die sich rechts von ihnen erstreckt.
„Was ... was ist denn das?“, fragt Kolle.
Primo weiß nicht, was er antworten soll. Die Höhle vor ihm erscheint viel größer, als er sie von seiner letzten Reise in den Nether in Erinnerung hat. Das Netherportal stand ursprünglich am Rand eines Lavasees, doch der ist verschwunden. Stattdessen ist der Boden der Höhle jetzt mit schwarzem Gestein bedeckt. Darauf erheben sich seltsame Gebilde – Türme und flache Bauwerke aus Metall und Glas, in denen Wasser strömt. Dazwischen stampfen mehrere Eisengolems herum, die Blöcke hin und her tragen. In der Mitte der Höhle ragt eine Pyramide aus roten Blöcken auf, die mit weißen Binden und den Buchstaben TNT markiert sind.
Wumms! Eine gewaltige Explosion erschüttert die Höhle. Ein Teil der fernen Höhlenwand stürzt ein. Golems marschieren auf die Stelle zu und sammeln weggesprengte Blöcke ein, die sie benutzen, um weitere Konstruktionen zu errichten.
„Bei Notch!“, ruft Kolle. „Golina hatte recht! Artrax hat eine Armee von Golems erschaffen, um das Dorf von unten zu zerstören. Wir müssen umkehren und die anderen warnen!“
Doch Primo schüttelt den Kopf. „Das glaube ich nicht.“ Er klettert die Leiter hinab, die einst der Fremde angelegt hat, als er hier in der Tiefe das Netherportal errichtete.
„Spinnst du?“, ruft Kolle von oben. „Komm sofort zurück! Du hast doch gehört, was dein Vater gesagt hat: Wir sollen auf keinen Fall mit Artrax kämpfen!“
„Das hier ist nicht das Werk von Artrax“, erwidert Primo. „Ich habe so etwas Ähnliches schon einmal gesehen, in einer Höhle, die weit, weit entfernt unter einer Insel mit Pilzen lag.“
Zögernd folgt Kolle ihm die Leiter hinab. „Du ... du denkst, Lausius hat das hier geschaffen?“
Primo nickt und zeigt auf ein Schild, das am Fuß der Leiter aufgestellt ist: Betreten der Baustelle für Unbefugte verboten!
„Artrax würde sich wohl kaum die Mühe machen, so ein Schild aufzustellen.“
„Aber ... wenn das Lausius war, was hat er vor?“
„Das fragen wir ihn am besten selbst.“
Sie gehen vorsichtig weiter und betrachten staunend die Konstruktionen um sie herum. Es ist kaum zu glauben, dass der Alte all das in so kurzer Zeit geschaffen hat.
Als einer der Golems sie entdeckt, legt er den Steinblock ab, den er mit sich herumgetragen hat, und kommt mit raschen Schritten auf sie zu.
„Führe mich zu deinem Herrn!“, sagt Primo.
Doch der Golem antwortet nicht. Stattdessen starrt er ihn mit rot glühenden Augen an und holt mit dem Arm aus. Im nächsten Moment fliegt Primo in hohem Bogen durch die Luft. Am höchsten Punkt seiner Flugbahn fühlt er sich für einen Augenblick leicht, als würde er schweben, dann stürzt er in die Tiefe. Mit einem Platsch landet er in dem kleinen unterirdischen Bach am Eingang der Höhle.
„Was fällt dir ein, meinen Freund anzugreifen, du nutzloser Blechhaufen!“, brüllt Kolle und verpasst dem Golem einen kräftigen Schlag, der diesen rückwärts gegen eine der seltsamen Apparaturen prallen lässt. Doch das ruft nur die anderen Golems auf den Plan, die nun von allen Seiten auf ihn zukommen.
„Lass uns lieber von hier verschwinden!“, ruft der triefend nasse Primo, als er aus dem Bach klettert.
Kolle sieht ein, dass er selbst mit Nachtwandlerkraft gegen ein halbes Dutzend Golems keine Chance hat, und ergreift die Flucht. Gemeinsam rennen sie zurück zur Leiter. Mit knapper Not schaffen sie es, die unteren Sprossen zu erklettern, bevor die wütenden Golems sie erreichen.
„Und jetzt?“, fragt Kolle, als sie die Oberkante der Schlucht erreichen.
„Jetzt machen wir, was mein Vater gesagt hat: Wir kehren zurück ins Dorf und erstatten Bericht“, antwortet Primo.
„Und ihr seid sicher, dass es nicht Artrax ist, der diese Apparate gebaut hat?“, fragt Porgo, als Primo und Kolle in der Schmiede Bericht erstatten.
„Nein“, antwortet Kolle, während Primo im selben Moment „Ja“ sagt.
„Nein? Ja? Also was denn nun?“, fragt Golina.
„Wir haben Lausius nicht gesehen, also können wir nicht wissen, ob wirklich er derjenige ist, der das alles gebaut hat“, sagt Kolle.
„Aber ich habe die Apparate gesehen, die er unter der Insel mit den Pilzen konstruiert hat, und die sahen ganz ähnlich aus“, widerspricht Primo. „Artrax dagegen hat bisher noch nie etwas Derartiges getan.“
„Er hat eine Armee von Schneegolems auf uns gehetzt“, erwidert Kolle. „Da könnte er ebenso gut Eisengolems bauen, die irgendwelche Apparaturen errichten. Wer weiß schon, wie ein Enderman denkt?“
„Trotzdem“, beharrt Primo. „Es ist doch kein Zufall, dass diese Geräusche aufgetreten sind, kurz nachdem Lausius verschwunden ist. Und denk an das Schild, das dort unten stand. Artrax würde uns bestimmt nicht davor warnen, die Höhle zu betreten. Er hätte uns einfach sofort angegriffen.“
„Ob es nun Lausius war oder nicht“, unterbricht Porgo, „wir müssen wissen, was das alles zu bedeuten hat. Mir gefällt das nicht, vor allem dieser große Stapel von TNT-Blöcken. Jeder von ihnen hat die Sprengkraft eines Knallschleichers. Wenn die alle gleichzeitig explodieren, wer weiß, was das für eine Wirkung hätte.“
„Die Golems haben diese Blöcke benutzt, um die Höhle zu vergrößern“, sagt Primo. „Lausius scheint da unten viel Platz zu brauchen, wofür auch immer.“
„Vielleicht will er unter der Erde ein neues Dorf für uns bauen“, spekuliert Margi. „Dort unten wären wir vor Artrax‘ Angriffen sicher.“
„Oh ja!“, ruft Nano. „Das wäre doch toll, ein Dorf in einer riesigen Höhle! Und wenn der böse Entenmann kommt, dann nehmen wir einfach diese Ententeeblöcke und sprengen ihn damit in die Luft!“
„Ich bezweifle, dass die anderen Dorfbewohner bereit wären, in eine Höhle umzuziehen“, meint Golina. „Ich jedenfalls möchte nicht für den Rest meines Lebens in der finsteren Tiefe hausen, ohne Sonnenuntergänge und Sternenhimmel.“
„Was auch immer Lausius bezweckt, ich mache mir Sorgen, dass es schiefgehen könnte“, meint Porgo.
Primo nickt, während er sich schaudernd daran erinnert, wie die Apparaturen in der Höhle unter der Pilzinsel eine nach der anderen explodiert sind. Er konnte damals von Glück sagen, mit dem Leben davon gekommen zu sein.
„Du hast recht, Vater. Wir müssen an Mörfis Gesetz denken: Wenn etwas schiefgehen kann, dann geht es auch schief.“
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