Sie schoben einen großen, mit Laborgeräten beladenen Handwagen vor sich her und mühten sich, den Wagen in einem Stück durch die Glastür zu bekommen.
Katharina schlängelte sich an ihnen vorbei und hielt ihnen die Tür auf. Die Hörnchen schoben dankbar den Wagen hindurch, dann verneigten sie sich tief vor Katharina: »Habt Dank, Meisterin … ,« – »… Chefin in spe und frischgebackene Kriminaldirektorin!«
Die Hörnchen teilten alles, was sie sagten, unter sich auf. Wenn sie Vorgesetzte zur Weißglut treiben wollten, sprachen sie sogar in Reimen. Katharina bekam sofort bessere Laune: »Wo wollt ihr denn hin?«
»In unser neues Labor!« – »Das ist so cool!« – »Wir haben eine ganze Etage für uns!« – »Und das neueste Equipment!« – »Und das alles deinetwegen!« – »Darum habt Dank, große Meisterin!«
Die meisten anderen Ermittler im Präsidium kamen mit den Hörnchen nicht zurecht, aber Katharina mochte sie. Deswegen hatte sie sich die beiden Spurensicherungsexperten als Mitarbeiter ausbedungen, als ihr der Innenminister die Leitung der neuen Sonderermittlungseinheit angetragen hatte. Offiziell war das zwar ein großer Verlust für das Polizeipräsidium, aber Katharina hatte Polanski selten so erleichtert gesehen.
»Ist irgendwas? Ein neuer Fall?« – »Du hast diesen Blick«, fragten die Hörnchen im neugierigen Duett.
Ein neuer Fall? Ja, den hatte Katharina. Den Mord an ihrer Familie. Sie würde selbst weiterermitteln. Wieder ganz von vorne beginnen. Aber immerhin hatte sie jetzt einen Anhaltspunkt. Es war ein Auftragsmord gewesen. Und ein Auftragsmord hatte – Binsenweisheit – einen Auftraggeber. Und der hatte einen Grund für sein Handeln. Finde den Grund, finde den Täter. Eine banale Erkenntnis aus dem Grundkurs für Ermittlungsstrategien, ebenso wie: Der Weg zum Täter führt immer über das Opfer und den Tatort. Dort würde sie also beginnen: im Haus ihrer Eltern. Die Hilfe von zwei erfahrenen Spurenkundlern käme dabei sicher sehr gelegen.
Die Hörnchen mussten ihre Gedanken gelesen haben. »Ha! Hab ich’s doch gesagt!« – »Dürfen wir mitspielen?«
»Na ja, es ist nicht offiziell«, begann Katharina, doch die Hörnchen ließen sie gar nicht erst weiterreden: »Und wenn schon!« – »Offiziell ist sowieso langweilig.« – »Das kann doch jeder.« – »Und außerdem: Wenn wir das ganze Zeug drüben im neuen Gebäude haben … ,« – »… dann sind wir erst mal auf Urlaub gesetzt.«
Urlaub? Das war das Schlimmste, was man den Hörnchen antun konnte. Doch eigentlich wollte Katharina nicht das Leben und die Karriere von noch mehr Menschen riskieren: »Ach, ich will euch da nicht mit reinziehen. Das kann eine Menge Ärger geben.«
»Katharina, du weißt doch … ,« – »… wir lieben Ärger.« – »Und du bist doch die große Meisterin …« – »… und Chefin in spe!«
Wenn sie sich so aufdrängten … Katharina nickte: »Kann sein, dass ich euch morgen anrufe. Aber zu niemandem ein Wort. Schon gar nicht zu Polanski.«
»Schon klar!« – »Und Polanski sagen wir überhaupt nichts mehr … ,« – »… der hat uns nämlich diesen Zwangsurlaub eingebrockt.« – »Also, Katharina … ,« – »… wir harren des Anrufs der großen Meisterin!«
Die Hörnchen verneigten sich noch einmal tief. Dann packten sie vergnügt den Griff ihres Handwagens und schoben ihn über den Innenhof des Gebäudes davon.
***
Katharina ging langsam zum Papamobil. Ihr Nacken begann zu kribbeln. Wurde sie verfolgt? Sie sah sich um. Der Parkplatz war ruhig. Kein Mensch zu sehen. Aber das mochte nichts heißen. Zwischen den parkenden Autos gab es genug Deckung. Schnell stieg sie ein, startete den Motor, setzte aus der Parklücke und fuhr zur Ausfahrt. An der Schranke warf sie einen Blick in den Rückspiegel. Huschte da nicht ein Schatten zwischen den Autos hindurch?
Katharina ließ den Wagen fast im Leerlauf auf die Straße rollen, den Rückspiegel weiterhin fest im Blick. Tatsächlich, da startete ein Auto in einer Parklücke am Straßenrand. Ein Verfolger?
Sie würde ihn auf jeden Fall abschütteln, bevor sie nach Hause fuhr.
Nach Hause? War das wirklich eine gute Idee? Sie musste abgehört worden sein. Es gab gar keine andere Möglichkeit. Jemand war in ihre Wohnung eingedrungen und hatte sie verwanzt. Und wenn das einmal möglich war …
Sie brauchte Hilfe. Von jemandem, der sich mit so etwas auskannte. Ihrem Patenonkel. Doch sie konnte nicht einfach zu ihm fahren. Nicht mit einem Verfolger im Nacken.
Kurzentschlossen nahm sie die Eschersheimer Landstraße stadtauswärts. Was sie brauchte, war ein halbwegs sicheres Telefon. Eine Telefonzelle. Zum Glück hatte sie eine gute Idee, wo sie eine der letzten Vertreterinnen dieser Art in der Stadt finden würde. Wenn all das hier vorbei war, würde sie eine Bürgerinitiative zur Rettung der Münzfernsprecher gründen.
Drei Kreuzungen später war der Wagen noch immer hinter ihr. Nun gut, das konnte Zufall sein.
Sicher war sicher. Als sie zu ihrer Rechten ihr Ziel auftauchen sah, das Gebäude der Postbank, trat sie ein wenig aufs Gas, als würde sie daran vorbeifahren. Erst in letzter Sekunde riss sie das Steuer herum und fuhr schlitternd auf den Gehweg vor dem Gebäude. Ihr Verfolger – wenn es denn einer war – schoss an ihr vorbei.
***
Am Eingang der Postbank standen tatsächlich zwei Münzfernsprecher. Katharina wählte den, von dem aus sie den besten Blick auf die Straße hatte, und durchsuchte ihre Taschen nach Kleingeld.
Unwillkürlich musste sie an Harry Markert denken, ihren Ausbilder und ersten Partner. »Hab immer ein Taschenmesser, einen Dauerlutscher, ein Feuerzeug und ein paar Münzen dabei«, hatte er ihr damals beigebracht. »Du weißt nie, wann du etwas durchschneiden, ein Kind trösten, jemandem Feuer geben oder einen Anruf tätigen musst.«
Katharinas Finger schlossen sich um ihre Notfall-Münzen. Sie fütterte den Münzfernsprecher und wählte.
»Pronto?«, schallte es ihr nach dreimaligem Klingeln entgegen. Antonio Kurtz war stolz auf seine sizilianische Herkunft. Deshalb hatte er sich einen italienischen Akzent zugelegt, der jeden Operettenbuffo hätte vor Scham im Boden versinken lassen.
»Ich bin es, Katharina.«
»Katharina! Was ist los?«
»Ich stecke in Schwierigkeiten.« Sie berichtete hastig.
»Ich habe es ja gesagt, dieser Eukalyptusfresser bedeutet nichts als Ärger. Selbst im Tod noch.« Kurtz’ Ton wurde befehlend: »Also, du fährst heute Abend keinesfalls in deine Wohnung zurück. Ich schicke gleich ein paar Leute los, die sich auf die Suche nach den Wanzen machen. Am besten, du nimmst dir ein Hotelzimmer. Irgendwo außerhalb. Sieh aber zu, dass du nicht verfolgt wirst. Und keine Extratouren, verstanden?«
»Ja, natürlich«, antwortete Katharina.
»Und du kehrst erst zurück, wenn deine Wohnung wieder sicher ist. Ich melde mich bei dir.«
»Ich … Ich habe mein Handy nicht dabei.«
»Dann ruf mich morgen früh an. Und pass auf dich auf!«
Damit war das Telefonat beendet. Katharina hängte den Hörer ein und ging zu ihrem Wagen zurück. In welchem der Frankfurter Vororte konnte sie wohl ein Hotelzimmer finden? Kriftel? Hofheim? Oder am Flughafen?
Ach verdammt, das war wie bei ihrer Flucht nach Afrika. Sie war wieder allein. Auf sich gestellt. Und es war zu viel passiert an diesem Tag.
Sie musste mit jemandem reden. Jemandem, der in der Lage war, das Chaos ihrer Gedanken aufzuräumen.
Es gab nur einen Menschen, der das konnte. Der ihr zuhören würde. Dem sie vertraute. Den sie als Freund betrachtete.
***
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