»Ich bin nicht von der Verkehrspolizei. Und es sind auch nur zwanzig Meter. Ich nehme das im Zweifelsfall auf meine Kappe.«
Beruhigt ließ der Mann die Scheibe wieder hochfahren, setzte artig zurück und fuhr langsam in die andere Straße. Zum Glück hatte er keinen Gegenverkehr.
Katharina atmete tief aus. Jetzt hieß es warten. Eigentlich sollte zuerst ein Streifenwagen kommen, um den Tatort zu sichern. Aber wegen des Schnees, so hatte es ihr der Kollege in der Notrufzentrale gesagt, waren alle Wagen im Einsatz. Also musste sie selbst sichern und in der Kälte ausharren.
Um nicht am Boden festzufrieren, ging sie langsam um den Wagen herum, bemüht, immer nur in ihre eigenen Fußstapfen zu treten.
Fußstapfen! Fußspuren! Im Schnee gut zu sehen, aber nicht ganz so einfach zu sichern. So hatte sie es in der Spurenkunde gelernt. Eine Spur führte vom Wagen weg quer über den Westendplatz. Die ersten Schritte auf jungfräulichem Schnee. Die Fußspuren des Mörders? Katharina betrachtete die Abdrücke im Schein ihrer Taschenlampe. Feste, grobe Sohlen. Stiefel. Aber sie waren klein. Höchstens Größe 38 oder 39. Der Täter musste kleine Flüsse haben. Frauenfüßchen. Katharina ertappte sich dabei, dass sie hysterisch kicherte.
***
Alone and I
Polizeipräsidium Frankfurt am Main,
etwa eine Stunde später
Nach fast zwanzig Minuten waren die Kollegen endlich gekommen: zwei Streifenwagen mit Sirene und Blaulicht, dann ein dunkler Opel vom Kriminaldauerdienst und zuletzt der Kleinbus der Spurensicherung. Katharina hatte dem leitenden Beamten knapp Bericht erstattet, dann war sie gebeten worden, für eine ausführlichere Aussage ins Polizeipräsidium zu fahren.
Dort herrschte Hochbetrieb: Der erneute Schneefall hatte Frankfurt im Verkehrschaos versinken lassen. Die Beamten hetzten von Einsatz zu Einsatz, niemand beachtete Katharina.
Zunächst hatte sie im Flur gewartet, im KK 11, ihrer Abteilung. Ihrer ehemaligen Abteilung, korrigierte sie sich. Polanski hatte schließlich eine uniformierte Beamtin gebeten, Katharina in ein Vernehmungszimmer zu bringen. Dort sollte sie auf ihn warten. Und auf den leitenden Ermittler des Falls.
Jetzt saß Katharina also im Vernehmungszimmer, vor sich einen Becher Kaffee, den ihr die uniformierte Beamtin gebracht hatte. Sie hatte Katharina aufmunternd zugenickt und sie dann wieder sich selbst überlassen.
War der Mann mit den Eukalyptuspastillen ihretwegen ermordet worden? Eine kleine, hoffnungsvolle Stimme in Katharina flüsterte, dass das ja auch ein Zufall gewesen sein konnte. Der Mann mit den Eukalyptuspastillen hatte sicher viele Feinde. Vielleicht war Katharina einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.
Unsinn! Sie war mit dem Mann mit den Eukalyptuspastillen – wie war noch sein Codename? Koala? – verabredet gewesen. Und es war ganz sicher kein Zufall, dass er ausgerechnet an ihrem Treffpunkt erschossen worden war. Katharina erinnerte sich, dass sie auf dem Weg zum Westendplatz Knallgeräusche gehört hatte, gedämpft durch den Schnee. Sie hatte sie für Fehlzündungen gehalten. Vermutlich hatten die Anwohner des Westendplatzes genauso gedacht wie sie. Und so war ein Mensch direkt vor ihrer Haustür erschossen worden, ohne dass sie es bemerkt hatten. Die Freuden der Großstadt.
Doch woher wusste der Täter von ihrem Treffen? Die einfachste Erklärung war natürlich, dass er sein Opfer beschattet hatte. Doch je länger Katharina darüber nachdachte, umso unwahrscheinlicher erschien es ihr. Der Mann mit den Eukalyptuspastillen war ein erfahrener … Ja, was eigentlich? Geheimdienstler? Bestimmt war er mindestens ebenso paranoid wie die meisten Menschen dieses Berufsstandes und hätte einen Verfolger bemerkt und abgeschüttelt.
Ihr konnte der Mörder auch nicht gefolgt sein. Sonst wäre er ja mit oder nach ihr am Treffpunkt eingetroffen. Blieb also nur eine einzige Möglichkeit: Ihr Telefonat war abgehört worden.
Aber wie? Ihr neues Handy war in der Lage, Gespräche zu verschlüsseln. Von dieser Möglichkeit hatte der Mann mit den Eukalyptuspastillen Gebrauch gemacht. Und das wiederum ließ nur einen einzigen Schluss zu, der Katharina einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte: Sie selbst war abgehört worden. Ihre Wohnung war verwanzt. Und das bedeutete, dass der Täter rechtzeitig über ihre Spur zum Mörder ihrer Eltern informiert worden war. Aber wer hatte die Überwacher überhaupt auf ihre Spur gebracht? Irgendjemand musste mit irgendjemandem gesprochen haben, absichtlich oder nicht. Andreas Amendt? Nein, sie hatte fast den ganzen Tag mit ihm verbracht. Mit wem hatte sie noch geredet? Mit Kurtz, mit Polanski, mit Gerhard Schönauer, dem Ballistik-Experten des BKA. Und natürlich mit Wolfgang Froh, dem paranoiden Kriminologen.
Kurtz konnte sie wohl ausschließen. Den Kriminologen auch. Blieben noch Polizeipräsidium oder BKA. Katharinas Bauchgefühl sagte ihr eigentlich, dass sie Polanski und Schönauer trauen konnte. Doch beide mussten Berichte verfassen. Kollegen informieren. Und …
Und Polanski war in ihrer Wohnung gewesen. Als er ihre Dienstwaffe an sich genommen hatte. Hatte er die Wanze angebracht? Schwer vorstellbar. Aber vielleicht hatte er ja aus gutem Willen gehandelt. Um über ihre Rückkehr informiert zu sein und sie zu schützen. Und die Abhördaten waren in die falschen Hände geraten. Katharina schüttelte ärgerlich den Kopf. Nein, nicht Polanski. Aber …
Bevor sie in Afrika untergetaucht war, hatte sie auf Polanskis Anweisung hin unter dem Personenschutz des BKA gestanden. Waren die Beamten etwas zu übereifrig gewesen, hatten die Wohnung verwanzt und vergessen, ihre Gerätschaften wieder mitzunehmen?
Was hatte der Mann mit den Eukalyptuspastillen gesagt? »Trauen Sie niemandem!«
Katharina hatte das auf seine berufliche Paranoia geschoben. Aber wie sagt man doch: Nur weil du paranoid bist, heißt das nicht, dass sie nicht hinter dir her sind.
Katharinas Eingeweide ballten sich zu einem eisigen Klumpen zusammen. Warum hatte der Mörder nicht einfach auch auf sie gewartet? Sie gleich mit erledigt? Natürlich, sie hatte die Leiche finden sollen. Nur warum?
***
Die Tür des Vernehmungszimmers sprang auf, Polanski kam herein.
Ihm folgte Berndt Hölsung. Katharinas Todfeind. Dass ausgerechnet der schlechteste Ermittler des KK 11 diesen Fall leiten sollte, konnte kein Zufall sein. Vermutlich würde er mit der ihm eigenen Mischung aus Inkompetenz und Gemeinheit versuchen, ihr diesen Mord anzuhängen.
Katharina dachte an die Visitenkarte des Mannes mit den Eukalyptuspastillen und die SD-Speicherkarte. Beides steckte noch in ihrer Jacke, aber eigentlich war sie entschlossen gewesen, ein einziges Mal in ihrem Leben auf Polanski zu hören und ihm die Fundstücke zu übergeben.
Und nun ausgerechnet Hölsung. Es half nichts. Wenn sie wirklich die Wahrheit herausfinden wollte, würde sie doch auf eigene Faust ermitteln müssen. Sie würde also die beiden Beweisstücke behalten. Das war zwar eine Straftat, aber besser im Gefängnis als tot und begraben.
Polanski und Hölsung nahmen ihr gegenüber Platz. Katharinas und Hölsungs Blicke trafen sich; einen Moment lang starrten sie sich unverwandt an. Katharina lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Sollte Hölsung doch versuchen, ihr den Mord anzuhängen. Im Zweifelsfall würde sie einfach die Aussage verweigern und einen Anwalt verlangen.
Doch sie war fast enttäuscht von Hölsungs Vernehmungsstil. Er fragte sachlich, systematisch und mit der Fantasie eines gestressten Buchhalters. Auffinde-Situation, Uhrzeiten, etwaige Beobachtungen: Standardfragen. Katharina antwortete, so gut sie konnte. Frage um Frage, Antwort um Antwort schleppte sich die Vernehmung dahin. Genau war Hölsung ja, das musste sie ihm lassen. Zeitverschwendend genau. Es wäre viel einfacher gewesen, Katharina einen normalen Bericht schreiben zu lassen. Als sie Hölsung dieses Angebot machte, schüttelte er schlecht gelaunt den Kopf: Sie sei keine Beamtin das KK 11 mehr und somit als ganz normale Zeugin zu behandeln.
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