Irgendwann gingen Hölsung die Fragen aus und er wollte die Vernehmung schon beenden, als sich Polanski endlich einmischte. Er hatte schon geraume Zeit nervös mit den Fingern auf seinem Oberschenkel getrommelt: »Ich hätte da noch ein paar Fragen. Sie gestatten doch, Herr Kollege?«
Diese Frage war natürlich reine Höflichkeit. Polanski war Hölsungs Vorgesetzter. Also wartete er dessen Antwort gar nicht erst ab.
»Konnten Sie den Toten identifizieren?«, begann er.
»Nein.« Das war die Wahrheit, soweit es Katharina betraf. Sie kannte den Namen des Mannes mit den Eukalyptuspastillen nicht. Hartmut Müller – der Name auf der Visitenkarte – war vermutlich ein Alias. Wenn die Visitenkarte überhaupt dem Toten gehörte.
Polanski war mit dieser Antwort nicht zufrieden: »Nein? Sie wissen aber, wer er war? Sie sind ihm schon begegnet?«
Katharina unterdrückte ein Aufstöhnen: »Natürlich. Er hat mich ja in meiner Anhörung verteidigt. Aber er hat mir nie seinen Namen gesagt. Ihnen vielleicht?«
Polanski schüttete schlecht gelaunt den Kopf: »Nein. Aber das spielt jetzt auch keine Rolle. – Keine Brieftasche, kein Handy, keine Schlüssel, sein Aktenkoffer leer … Haben Sie irgendetwas davon an sich genommen?«
»Nein«, sagte Katharina mit Nachdruck. »Ich habe die Leiche praktisch so belassen, wie ich sie aufgefunden habe. Nur seinen Puls gefühlt habe ich. Und seine Taschen vorsichtig durchsucht. Nach einem Handy. Ich hatte meines nicht dabei.«
»Soso.« Polanski beugte sich vor und stützte seine Ellbogen auf den Tisch: »Was haben Sie überhaupt am Westendplatz zu suchen gehabt?«
Was sollte sie darauf antworten? Am besten die Wahrheit: »Er hat mich angerufen und um ein Treffen dort gebeten.«
»Wusste sonst noch jemand von der Verabredung?«
»Nein, zumindest nicht von mir. Ich bin direkt nach dem Anruf aus dem Haus gegangen.«
»Und Sie haben mit niemandem gesprochen? Auch, zum Beispiel, mit Doktor Amendt nicht?«
»Natürlich nicht.«
»Wo ist Doktor Amendt jetzt?«
»Keine Ahnung. Vermutlich zu Hause. Seinen Jetlag ausschlafen.«
Polanski fischte mürrisch ein Stofftaschentuch aus seinem Jackett und putzte seine Brille. Dann endlich stellte er die richtige Frage: »Warum wollte sich Koala mit Ihnen treffen?«
Koala? Das Alias, mit dem sich der Mann mit den Eukalyptuspastillen auch am Telefon gemeldet hatte. Woher kannte Polanski das? Und warum hatte er sie eben angelogen? Warum hatte er gesagt, dass er keinen Namen wüsste? Eine kleine Stimme in Katharina mahnte, ihre Paranoia vielleicht besser im Zaum zu halten. Ein Alias war kein Name. Andererseits war Polanski das Alias allzu leicht über die Lippen gegangen.
»Katharina, ich warte«, drängte Polanski. »Warum wollte er sich mit Ihnen treffen?«
Nun, vielleicht gelang es Katharina ja, Polanski aus der Reserve zu locken. Also sagte sie die Wahrheit: »Er wollte mir Unterlagen geben, die den Mord an meiner Familie betreffen.«
»Hatte ich Ihnen nicht ausdrücklich gesagt«, brauste Polanski auf, »dass Sie sich da raushalten sollen? Dass Sie den ganzen Fall kompromittieren, wenn Sie sich einmischen?«
»Das hatte ich auch nicht vor. Aber ich hatte den Eindruck, dass die Unterlagen wichtig waren. Und Ihnen direkt hat er sie ja nicht gegeben. Daher dachte ich …«
»Sie dachten was?«
»Ich dachte, ich nehme die Unterlagen an mich und gebe sie dann bei Ihnen ab. Und ja, das ist durchaus im Rahmen unserer Vorschriften.«
»Sie wollten also die Unterlagen bei mir abliefern? Und warum haben Sie mich dann nicht gleich über dieses Treffen informiert?«
»Ich habe, ehrlich gesagt, nicht daran gedacht.«
Diese Antwort machte Polanski noch wütender: »Sie haben nicht daran gedacht? Haben Sie unser Gespräch von heute Morgen schon vergessen? Wir hätten vielleicht zusammen –«
»Zusammen zum Treffen gehen können?«
»Oder ich hätte jemanden schicken können. Zu Ihrem Schutz.«
»Ich kann ganz gut auf mich selbst aufpassen, herzlichen Dank. Außerdem … Meine Güte, ist es schon so lange her, dass Sie mit einem Informanten umgehen mussten, Chef? Wenn die Unterlagen so wichtig waren und er sie Ihnen nicht direkt gegeben hat: Das spricht nicht gerade dafür, dass er Ihnen vertraut hat.«
Polanski überhörte ihre letzte Bemerkung: »Sie wollten zum Treffpunkt gehen, die Unterlagen abholen und sie anschließend mir übergeben?«
»Ja. Zu meinem Patenonkel gehe ich doch auch alleine, wenn er einen Tipp für uns hat. Das hat Sie bisher jedenfalls nie gestört.«
»Nun gut.« Polanski wirkte nicht gerade, als würde er ihr bedingungslos glauben. »Hat er Ihnen Unterlagen gegeben?«
Katharina glaubte, den kleinen Speicherchip in der Brusttasche ihrer Lederjacke pochen zu fühlen. Aber wenn Polanski nicht mit der ganzen Wahrheit herausrückte, dann würde sie das auch nicht tun. Also schüttelte sie energisch den Kopf: »Nein, natürlich nicht. Er war schon tot, als ich angekommen bin.«
Polanskis Finger trommelten nervös auf der Tischplatte: »Hat Koala Ihnen sonst noch irgendetwas gesagt?«
Sonst noch irgendetwas? Natürlich! Katharina hatte die Warnung des Mannes mit den Eukalyptuspastillen völlig verdrängt. Jetzt fiel sie ihr wieder ein: »Er hat mich gewarnt. Angeblich ist ein neuer Profikiller in Frankfurt angekommen. Mit dem Codenamen S/M.«
»Essem?«
»Nein, S Schrägstrich M. Sie wissen schon, wie Sadomasochismus.«
»Und der ist hinter Ihnen her?«
Das hatte der Mann mit den Eukalyptuspastillen auch befürchtet. Andererseits hatte Katharina keine Lust, schon wieder den Personenschutz des BKA auf dem Hals zu haben. »Er wusste es nicht. Meinte, es könnte vielleicht ein Zufall sein.«
»Oder dieser S/M war hinter Koala her?«
»Möglich. Er wird wohl mehr als genug Feinde gehabt haben.«
Polanski räusperte sich: »Vielleicht sollten wir Sie sicherheitshalber unter Personenschutz –«
»Nein, das wird nicht nötig sein«, fiel ihm Katharina energisch ins Wort. »Wenn S/M wirklich hinter mir her wäre, dann hätte er vorhin genügend Gelegenheit gehabt, mich gleich mit zu erledigen.«
»Aber woher hat dieser S/M von Ihrem Treffen gewusst? Haben Sie wirklich mit niemandem darüber gesprochen?«
»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Ich bin direkt nach dem Telefonat aus dem Haus gegangen. Ich nehme an, der Täter ist dem Toten gefolgt. Auf jeden Fall würde ich den Wagen gründlich nach Wanzen absuchen lassen. Aber das ist ja nicht meine Ermittlung.«
»Ganz richtig«, antwortete Polanski. »Es ist nicht Ihre Ermittlung. – Und da wir gerade dabei sind: Ich hätte gerne die Akte.«
»Welche Akte?«, fragte Katharina, obwohl sie genau wusste, was Polanski meinte: die Kopie der Akte zur Ermordung ihrer Familie. Sie würde den Teufel tun und sie rausrücken. Aber es war besser, sie blieb diplomatisch: »Die habe ich nicht dabei. Ich bringe Sie Ihnen morgen vorbei, wenn es recht ist.«
»Aber wirklich! Sonst komme ich und hole sie!«
»Mich?«
»Die Akte. Und Sie gleich mit. Wenn es nötig sein sollte.«
***
Hölsung hatte Katharina ausdrücklich darauf hingewiesen, in näherer Zukunft die Stadt nicht zu verlassen, ohne sich abzumelden. Was für ein Klischee! Dann hatten er und Polanski sie gehen lassen.
Katharina war in den Aufzug gestiegen, ins Erdgeschoss gefahren und wollte gerade durch die hintere Tür auf den Mitarbeiterparkplatz gehen, als ihr zwei alte Bekannte entgegenkamen.
Man konnte die eineiigen Zwillinge, die sich nur durch das Muster ihrer Karo-Hemden unterschieden, leicht unterschätzen. Doch Alfons und Bertram Horn waren die besten Spurenkundler, die das Polizeipräsidium Frankfurt zu bieten hatte. Im Präsidium hießen sie A-Hörnchen und B-Hörnchen oder kurz die Hörnchen.
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