Irgendwann öffnete sich der Himmel und es erschien eine 8 blättrige blaue Blume am Firmament, so mächtig, dass diese mit ihrer Korolla bis zum Horizont reichte. Und obgleich viele Generationen in der Zwischenzeit geboren waren, verhielten sich die Menschen wie ehemals und liefen wieder zusammen. Diesmal erfreuten sie sich an dem Bild der riesengroßen Blume hoch oben über ihnen. Wieder entstand ein allgemeines Tohuwabohu, jedoch entwickelte sich darüber kein Zorn. Die früheren Beweggründe fielen der Lächerlichkeit anheim und der Platz für Neues war frei. Und so machte sich ein allgemeines Erstaunen breit und gleichzeitig damit etliche Meinungen, was diese wundervolle Erscheinung zu bedeuten hätte. Einige fielen auf die Knie und beteten die sichtbare Allegorie götzenhaft an, wiederum andere fürchteten sich. Sinnvollerweise wurde die Erscheinung nach gewisser Zeit derart akzeptiert, als würde diese Blume zum immerwährenden Weltbild dazugehören. Nach dem Aufwachen schauten die Menschen zuerst zum Himmel und waren sofort beruhigt, wenn diese blaue Blume am Firmament zu sehen war. Jemand meinte, sie würde das wahre Leben offenbaren. Doch was sollte es bedeuten, fragten andere daraufhin. Was bedeutet das wahre Leben? Glück, Zufriedenheit, Ruhe, Sicherheit, Frieden oder der kleinste gemeinsame Nenner, der sie, die Menschen, miteinander verbindet? Es gab keine klärende Antwort darauf. Auf jeden Fall war festzustellen: Von der Blume am Himmel ging nichts Böses, sondern eine allgemeine positive Grundstimmung aus. Sie stand dort hoch oben und zeigte die ganze Schönheit in ihrer physischen und mentalen Unerreichbarkeit.
Eines Tages passierte etwas Außergewöhnliches und nicht für möglich Gehaltenes. Die Blume verwelkte langsam. Zuerst noch kaum wahrnehmbar, an einigen Stellen entstanden kleine braune Stellen, die sich schnell vermehrten, bis sie die ganze Blume überdeckten, wodurch das wunderbare Blau durch ein hässliches Braun ersetzt wurde. Und nicht nur die welke Blume, auch die gesamte Erde wurde von diesem fahlen Licht überschattet. Wiederum knieten die Menschen ehrfürchtig nieder und bettelten um die Unversehrtheit des Lichtes. Es half alles nichts! Das düstere Licht blieb hartnäckig erhalten und gestaltete Mensch, Tier und auch die Natur zu einem Einheitsbrei an farbloser Eintönigkeit und erzeugte in allen eine depressive Grundstimmung. Fragen nach der Schuld entstanden bei den Menschen. Haben wir uns zur Bequemlichkeit und Genuss hinreißen lassen, anstatt der wunderbaren Lebensfreude zu huldigen? Offensichtlich, so wurde entschieden, musste gesühnt werden, obgleich niemand die Schuld zu definieren vermochte. Und so bauten die Menschen eine riesige blaue Blume als Abbild auf der Erde, der sie fortan huldigen konnten. Denn, wenn etwas ewig Bestand hat, so ist es die Kunst und Wahrheit, die die Menschen in ihrem Denken gleichwerden lässt. Und tatsächlich gelang mit diesem Kunstwerk ein Ausbruch aus der depressiven Stimmung. Zum allgemeinen Erstaunen wurde diese blaue Blume nicht fahl überschattet.
Viele Menschen wurden zu Pilgern, in der Hoffnung, dem Einheitsbraun entfliehen zu können. Und obgleich niemals ein Mensch von der Wanderschaft zurückgekehrt war, ließen sich weitere nicht aufhalten, ihnen gleich zu tun. Die Beweggründe für die Wanderschaft konnten nicht gegensätzlicher sein. Meinten die Einen, ihre Vorgänger müssten das ewig Schöne gefunden haben, waren andere der Ansicht, dass diese dem Tod begegnet waren und ihm hätten Rechenschaft ablegen müssen. Ein Konsens herrschte jedoch darüber, dass eine schicksalhafte Ergebenheit und einem Verneigen vor den Jahrhunderten gebrochener Geschichte der falsche Weg sei. Egal was am Ende des Weges auch geschähe, jeder Einzelne müsse die Schranke durchbrechen, die für ihn errichtet worden sei.
Und tatsächlich wurde der Strom der Pilger so gewaltig, bis eines Morgens die erst noch schwache rote Glut der aufsteigenden Sonne sichtbar wurde, die mit jeder Minute stärker und stärker wurde, bis sie die ganze Welt umfing und das Fahle wegwischte.
Ende
Hier an Deinem Grab sind die Blumen von der Trauerfeier am Verwelken. Fast ausschließlich weiße Rosen in verschiedenen Arrangements beherrschen den Blumenschmuck. Ohne die Lippen zu bewegen, spreche ich mit Dir. Der Nachklang meiner Worte erreicht hoffentlich Dein Ohr im Äther, Deine große Welt, die wir oft genug zusammen im Geiste durchstreift haben.
Manchmal hatten wir uns nahe des sogenannten „Altonaer Balkon“ auf den Rasen gesetzt und waren mit den Augen den großen Containerschiffen gefolgt, die so still die Elbe hinauf- und hinabzogen. Manchmal war es darüber zu einem Sonnenuntergang gekommen. Der Sonnenball hatte an Stärke verloren, sich zu karminrot abgeschwächt, bis er langsam und unaufhaltbar auf der anderen Seite der Elbe hinter den Kränen und Containerstapeln in einer Hülle von weinrot verschwunden war und es zu einem verschluckenden Dunkel, dem letzten Aufzucken des Tages, dem Abschied, geführt hatte.
In diesen Momenten sprachen wir nur wenig, sondern ließen unseren Gefühlen freien Lauf. Wie sehnsüchtig Du den Schiffen hinterherschautest. Augenblicklich denke ich, Du hast damals Deine eigene Reise vorweggesehen. Vermutlich hast Du gedacht: Die Schiffsrouten sind unseren Lebenswegen ähnlich, besitzen diese stets einen Zielhafen auf ihrer langen Reise und haben auf dem Weg dorthin große Unwägbarkeiten zu bewältigen. Plötzlich auftauchende Riesenwellen, die die Boote zu überstürzen drohen oder gefährlich ins Wanken bringen, undurchdringliche Nebel, die die Orientierung oder Navigation erschweren, Winde, Strömungen, welche das Ziel kurzzeitig schwingend undeutlich werden lassen. Nicht anders ergeht es doch jedem Menschen in seinem Leben. Waren diese Häfen Dein Ziel als eine Zwischenstation oder war es die Sucht nach dem Jenseits, dem Unbekannten als Auflösung oder Erlösung? In Träumen, so sagt man, löst sich letztlich jede Schwierigkeit auf. Wer hat es nicht selbst bereits einmal erlebt, todesdrohende Situationen durchlebt, die sich unrealistisch, traumhaft auflösten, um sie im Wachen als eine positive Erfahrung mitnehmen zu können als ein psychologischer Trick oder eine Überlebensstrategie unseres Daseins. Oder Lösung für grundlegende Lebensfragen? Ein Wechselbad der Gefühle zwischen Traum und Wirklichkeit.
Liebe Tochter,
Dich zog es seit geraumer Zeit mit großen gedanklichen Schritten zum Jenseits hin. Jedenfalls gab es Ansätze dazu in unseren Gesprächen, wahrzunehmen. Es waren sprechende, sinngefüllte plötzlich auftauchende Riesenwellen, die Dich gleichsam in den Bann zogen wie aus der Bahn warfen. Doch wen eigentlich von Euch beiden. Dich oder Deinen Zwilling? Damit hast Du häufig in mir Verwirrung gestiftet. Ja, ich denke, Du wusstest es selbst nicht einmal mehr. Einerseits standst Du mit beiden Beinen fest im Leben, während Dein Zwilling bereits eilte und nur noch dem Erfolg hinterherhechelte. Der damit verbundenen dunklen Seite den Ansporn gab, noch mehr und stärker in Dir zu wirken wie ein wunderbar dunkelglänzender Niederschlag, der so unfasslich schön sein kann und gleichsam verführerisch übersinnlich ist. Schuldgefühle besitzen darin keinen Platz. Es gab immer eine Erklärung, mit der Du Dich selbst zufrieden stellen konntest.
„Vater“, hast Du mich gefragt, „denkst Du das wir im Jenseits alle gleich sind? Ich möchte das nicht. Ich bin etwas Besonderes!“
Damals habe Dir geantwortet:
„Gott ist so weise, dass er auch dafür eine Lösung gefunden hat. Vielleicht liegt sie darin, dass er den Besonderen außergewöhnliche Aufgaben überantwortet. Doch was das Äußere, das Sichtbare betrifft, sage ich Dir, die wunderschöne Kleidung, den Schmuckglanz benötigst Du dort nicht mehr. Dies sind irdische Dinge, die für irdischen Glanz sorgen. Ja, es werden an Dich gestellte Aufgaben sein, die Dich vor anderen auszeichnen.“
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