„Und ob ich das verstanden habe! Ich bin froh, daß du mir den Posten abnimmst, Dollfuß! Mein Gehör wird immer schlechter, und hinhorchen, wie der Herr sich das vorhin vorgestellt hat, das kann ich hier in dem Lärm überhaupt nicht.“
Dollfuß nickt kurz, er sagt rasch: „Und was Sie da vorhin gesehen und gehört haben, darüber zu keinem Menschen ein Wort, sonst ...“
Fast gekränkt antwortet Quangel: „Zu wem soll ich denn reden, Dollfuß? Hast du mich schon mal mit einem Menschen reden hören? Das interessiert mich nicht, mich interessiert bloß meine Arbeit, und da weiß ich, daß wir heute feste im Rückstand sind. Es wird Zeit, daß du wieder an deiner Maschine stehst!“ Und mit einem Blick auf die Uhr: „Eine Stunde und siebenunddreißig Minuten hast du jetzt versäumt!“
Einen Augenblick später steht der Tischler Dollfuß wirklich an seiner Säge, und mit Windeseile, keiner weiß woher, verbreitet sich in der Werkstatt das Gerücht, der Dollfuß habe wegen seiner ewigen Raucherei und Schwätzerei einen reingewürgt gekriegt.
Der Werkmeister Otto Quangel geht aber aufmerksam von Maschine zu Maschine, greift zu, starrt mal einen Schwätzer an und denkt dabei: Die bin ich los – für immer und ewig! Und sie haben keinen Verdacht, ich bin bloß ein alter Trottel für die! Daß ich den Braunen mit „Lieber Mann“ angeredet habe, das hat denen den Rest gegeben! Nun bin ich bloß neugierig, was ich jetzt anfange. Denn irgendwas fange ich an, das weiß ich. Ich weiß bloß noch nicht, was ...
Am späten Abend, eigentlich ist es schon Nacht, eigentlich ist es schon viel zu spät für das Verabredete, hat der Herr Emil Borkhausen seinen Enno doch noch getroffen, im Restaurant „Ferner liefen“. Das hat die Briefträgerin Eva Kluge mit ihrem heiligen Zorn doch noch zuwege gebracht. Die Herren haben sich bei einem Glas Bier an einem Ecktisch zusammengesetzt, und dort haben sie geflüstert, sie haben so lange geflüstert – bei einem Glas Bier –, bis der Wirt sie darauf aufmerksam gemacht hat, daß er schon dreimal Polizeistunde geboten hat, und sie möchten doch sehen, daß sie endlich bei ihre Weiber kämen.
Auf der Straße haben die beiden ihre Unterhaltung fortgesetzt, sie sind erst ein Stück nach der Prenzlauer Allee zu gegangen, und dann hat der Enno wieder zurückverlangt, weil es ihm eingefallen ist, es wäre vielleicht doch besser, es bei einer zu versuchen, die er einmal gehabt hat und die Tutti genannt wird. Tutti, der Pavian. Besser als solche faulen Geschichten ...
Der Emil Borkhausen ist fast aus der Haut geplatzt vor so viel Unverstand. Er hat dem Enno zum zehnten, er hat ihm zum hundertsten Male versichert, daß hier von faulen Geschichten nicht die Rede sein könne. Es handele sich vielmehr um eine – beinahe gesetzmäßige – Beschlagnahme, die unter dem Schutze der SS erfolge, und außerdem sei's doch bloß eine olle Jüdsche, nach der kein Hahn kräht. Sie würden sich beide für eine Zeitlang gesund machen, und die Polizei und das Gericht hätten damit nichts zu tun.
Worauf der Enno wieder gesagt hat: Nein, nein, in solchen Sachen habe er noch nie seine Finger gehabt, er verstünde gar nichts davon. Weiber ja und Rennwetten dreimal ja, aber mit faulen Fischen habe er noch nicht gehandelt. Die Tutti sei immer ganz gutmütig gewesen, obwohl sie „der Pavian“ genannt werde, die denke sicher nicht mehr daran, daß sie ihm damals mit ein bißchen Geld und Lebensmittelkarten ausgeholfen habe, ohne es zu wissen.
Dabei sind sie schon in der Prenzlauer Allee gewesen.
Der Borkhausen, dieser immer zwischen Kriecherei und Drohen hin und her pendelnde Mann, hat ärgerlich gesagt, wobei er an seinem lockeren fliegenden Schnurrbart riß: „Wer zum Kuckuck hat denn von dir verlangt, daß du was von der Sache verstehst? Ich werde das Kind schon alleine schaukeln, von meinswegen kannste mit den Händen in der Tasche dabeistehen. Ich pack dir sogar noch deine Koffer, wenn du das auch noch verlangst! Versteh doch endlich, daß ich dich nur darum mitnehme, Enno, um mich vor einem Streich von der SS zu schützen, als Zeuge gewissermaßen, daß es bei der Teilung auch richtig zugeht. Denk doch bloß mal daran, was alles bei einer so reichen jüdischen Geschäftsfrauzu holen ist, selbst wenn die Gestapo damals, als sie den Mann holte, schon einiges hat mitgehen lassen!“
Plötzlich hat der Enno Kluge ja gesagt, ohne weiteres Wehren und Bedenklichkeit, ohne Übergang. Nun hat er gar nicht schnell genug in die Jablonskistraße kommen können. Was ihn aber zu der Überwindung seiner Angst und zu einem so rückhaltlosen Ja bestimmt hat, das ist weder das Gerede von dem Borkhausen gewesen noch die Aussicht auf eine reiche Beute, sondern schlichtweg sein Hunger. Plötzlich hat er an die Speisekammer der Rosenthal denken müssen, und daß die Juden immer gerne gut gegessen haben, und daß ihm eigentlich nichts im Leben so schön geschmeckt hat wie gefüllter Gänsehals, zu dem er ein einziges Mal von einem Kleiderjuden eingeladen worden ist.
Plötzlich hat er sich in seinen Hungerphantasien fest eingebildet, er finde solchen gefüllten Gänsehals in der Rosenthalschen Speisekammer. Er hat die Porzellanschüssel, in der er liegt, ganz deutlich vor sich gesehen, und den Hals, wie er in der zu Fett erstarrten Soße liegt, ganz dick gestopft und an beiden Enden mit einem Faden zugebunden. Er wird die Schüssel nehmen und sich das Ganze auf der Gasflamme warm machen, und alles andere ist ihm egal. Der Borkhausen kann tun, was er will, das ist ohne Interesse für ihn. Er wird Brot in die warme, fettige, stark gewürzte Soße tunken, und den Gänsehals wird er aus der Hand essen, daß die Fettigkeit nach allen Seiten rausquatscht.
„Leg noch 'nen Zahn zu, Emil, ich hab das eilig!“
„Warum so plötzlich?“ hat Borkhausen gefragt, aber eigentlich ist es ihm recht gewesen, und er hat willig noch einen Zahn zugelegt. Auch er würde froh sein, wenn die Sache erst abgemacht war, auch in seine Branche schlug sie nicht. Er hat nicht etwa wegen der Polizei oder wegen der ollen Jüdin Angst – was könnte ihm groß passieren, wenn er deren Besitz arisierte? –, sondern wegen der Persickes. Das ist so eine verfluchte verräterische Aasbande, denen ist sogar die Gemeinheit zuzutrauen, daß sie auch einem Kumpel einen Streich spielen. Nur wegen der Persickes hat er diesen blöden Hannes, den Enno, mitgenommen, das ist ein Zeuge, den sie nicht kennen, der wird sie schon bremsen.
In der Jablonskistraße ist dann alles schön glatt gegangen. Es wird ungefähr halb elf gewesen sein, als sie die Haustür aufgeschlossen haben, mit einem richtigen, legalen Hausschlüssel. Dann haben sie ins Treppenhaus gelauscht, und als sich dort nichts rührte das Treppenlicht angeknipst und sich bei seinem Schein die Schuhe ausgezogen, denn: „Wir müssen doch auf die Nachtruhe der Mieter Rücksicht nehmen“, hat Borkhausen gegrinst.
Als das Licht wieder aus war, sind sie leise und rasch die Treppe hochgepinschert, und es ist alles glatt und ruhig gegangen. Sie haben keinen von den Anfängerfehlern gemacht, daß sie mit Krach gegen was angerannt sind oder daß ihnen ein Schuh hingepoltert ist, nein, in aller Stille sind sie die vier Stockwerke hochgepinschert. Also, sie haben ein feines Stück Treppenarbeit geleistet, obwohl sie doch beide keine richtigen Ganoven sind und obwohl sie sich beide in ziemlicher Aufregung befinden, der eine besonders wegen des gefüllten Gänsehalses, der andere wegen der Beute und der Persickes.
Das mit der Tür von der Rosenthal hat sich der Borkhausen hundertmal schwieriger vorgestellt, nur ins Schloß gezogen ist sie, ganz einfach aufzumachen, nicht mal abgeschlossen. Was das für 'ne leichtsinnige Frau ist, wo sie doch als Jüdin besonders vorsichtig sein müßte! So sind die beiden in die Wohnung gekommen, sie wissen nicht mal wie, so schnell ging das.
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