Als sie kurz darauf mit ihrer Heuladung die Scheune erreichten, kam Ben, ein Hilfsfarmer und Rodeo-Cowboy hinzu, um zu helfen.
»Mann, wart ihr fleißig. Wollt ihr einen Extrabonus, oder wieso habt ihr so viel eingefahren?« Amüsiert betrachtete er den riesigen Heuhaufen auf dem Anhänger, ehe er sich kopfschüttelnd daran machte, das Netz zu lösen.
»Leute, es gibt einen kleinen vorwinterlichen Einbruch. Das ist alles. Der macht noch keinen großen Ärger.« Kopfschüttelnd zog Ben den ersten Heuballen hinunter und hob ihn auf seine Schulter. »Na dann müssen wir uns wohl ranhalten, damit wir bis zum Wetterumschwung fertig werden.«
Julian betrachtete erneut den Himmel.
»Sieht aus, als hätten wir ewig Zeit«, murmelte er missmutig, bevor er sich ebenfalls einen Heuballen schnappte.
Matt verdrehte nur genervt die Augen und zog sein Mobiltelefon aus der Hosentasche. Während er sich ein paar Schritte von der Scheune entfernte, drückte er die Kurzwahltaste, um Irene anzurufen. Überraschenderweise meldete sie sich sofort.
»Hi, Cowboy, was gibts?«, tönte ihre muntere Stimme ihm entgegen.
»Hi, Irene, wann wirst du zurück sein? Heut kommt noch ein Minischneesturm, du solltest dich also besser auf den Weg machen, ich meine, falls du noch in Pinedale bist.«
Er konnte förmlich spüren, wie sie lächelte.
»Mattie, der Himmel ist blau, es ist Halbvier. Ich bin schon aus Pinedale raus auf dem Highway 93, und fahr gleich nach Stormy Mills. Hab mir gedacht, ich geh noch ins Silverdime, wenn ich schon frei hab. Heute ist Elvis angesagt.« Sie klang fröhlich. Zu fröhlich, wie Matt fand.
»Ist doch cool, hatte ich schon lange nicht mehr«, fuhr sie munter fort.
Matt unterdrückte gerade rechtzeitig einen Fluch.
»Das ist nicht dein Ernst, oder? Ich meine, Askuwheteau hat gesagt, es gibt heut noch einen Sturm und du willst ins Kino?«
Inzwischen war Julian aus der Scheune zurück und musterte Matt fragend.
»Vergiss das für heute, Irene! Der Himmel ist viel zu klar auf Eagleside. Die Temperaturen fallen bereits und über dem Thunder ziehen schon Wolken auf. Es gibt heute auf jeden Fall noch Schnee!«
Irene schien nicht beeindruckt.
»Ach, der alte Askuwheteau, okay, so alt ist er auch nicht, aber ich hab schon lange nicht mehr mit ihm gesprochen. Bleib cool, heut gibt es maximal noch Regen. Ich möchte mir eine Tüte Popcorn kaufen, Cola trinken und einfach Elvis dabei zusehen, wie er die Frauen um den Verstand bringt. Ich glaube, heute steht ‚Blue Hawaii‘ auf dem Programm.« Sie machte eine kleine Pause.
»Ich hab ja meinen RAV, der bringt mich danach auch gleich heil nachhause«, fuhr sie beschwichtigend fort.
»Irene, bitte riskier nichts. Falls Schnee kommt, bekommst du Ärger. Du weißt das!«
»Ja, Mama.«
Matt ahnte, dass sie gerade genervt die Augen verdrehte.
»Hör auf, mich so zu nennen. Und falls du gerade die Augen verdrehst, LASS DAS SEIN!«
»Hey, wer sagt denn, dass ich das tue?«
»Ich sag das. Ich kenn dich.« Er holte tief Luft, da er bereits wusste, was sie antworten würde, trotzdem fragte er.
»Hast du wenigstens die Schneeketten dabei?«
»Nein, die brauch ich auch nicht. Der Film beginnt um fünf und ist vermutlich um Halbsieben aus. Ich hab genug Zeit, auch wenn es angeblich heute noch Schnee gibt, was ich nebenbeibemerkt, nicht glaube. Schönen Abend noch. Lass Julian grüßen. Wir sehen uns dann später.« Ehe Matt noch etwas entgegnen konnte, hatte sie aufgelegt.
Fassungslos starrte er sein Mobiltelefon an. Sie hatte einfach das Gespräch abgebrochen!
»Verdammt, verdammt, verdammt. Diese Irene, ich könnte sie erwürgen, echt.« Aufgeregt fuchtelte er mit den Händen herum.
»Sie ist so – so verdammt stur. Ausgerechnet heute, wo ein Schneesturm vor der Tür steht, will sie ins Kino. Ich fasse es nicht.«
»Was? Sie geht noch in die Stadt?« Etwas verwundert starrte Julian den aufgebrachten Freund an.
»Hm, scheint, als ob sie auch nicht daran glaubt, das heute noch ein Wetter kommt«, meinte er, nach einem erneuten Blick zum Himmel. »Oder sie nimmt wiedereinmal etwas auf die leichte Schulter«, fügte er munter hinzu.
Matt sah ihn verärgert an. Julian klang nach seinem Geschmack ein wenig zu vergnügt.
»Findest du das etwa lustig?«
Julian kratzte sich am Kopf, doch seine Mundwinkel verzogen sich nach oben.
»Ähm ja, irgendwie schon.«
Als er Matts entgeisterten Gesichtsausdruck sah, besann er sich jedoch anders.
»Okay, nein, das ist nicht lustig.« Doch, ein bisschen schon. Aber er hütete sich davor, es laut auszusprechen, und versuchte stattdessen einen zerknirschten Gesichtsausdruck zu machen, der ihm klarerweise nur teilweise gelang. Matt stöhnte genervt.
»Schon vergessen, was vor zwei Tagen passiert ist? Zwei Menschen sind nach einer Autopanne verschwunden.« Matt dachte an die beiden Parkranger, die zur Eagleside-Ranch hinaufgekommen waren, um vor wilden Tieren zu warnen. Sie hatten vereinzelte Blutspuren im Wald gefunden, doch die Menschen blieben verschwunden. Noch immer waren Suchtrupps unterwegs, doch der herbstliche Wald hatte die Spuren verwischt. Julian schüttelte den Kopf.
»Nein, hab ich nicht.« Er wusste, was Matt dachte und verstand seine Sorge. Im Laufe der Monate hatte er herausgefunden, das Matt Irene beschützen wollte, und wenn er ehrlich war, empfand er es genauso. Es war nie Julians Plan gewesen, doch so war es gekommen.
Irene machte es sich selbst und auch allen anderen nicht einfach, doch sie war durchaus fähig, diese große Ranch mitsamt allen darauf arbeitenden Personen zu leiten und dem zollte er Bewunderung.
Joanne, Irenes ältere Kusine, hatte ihnen vor ein paar Wochen im Vertrauen gesagt, dass sie sich viel besser fühlte, seit Julian und Matt auf der Ranch lebten. Nach dem Tod von Irenes Onkel Ethan war Matt hierher gekommen, um auf der Ranch zu helfen. Joanne hatte durch einen Tipp eines Holzfällerfreundes von ihm erfahren und ihn für Eagleside angeworben, obwohl sie eine eigene Farm ganz in der Nähe besaß, die genügend Arbeit verursachte. Matt hatte spontan zugesagt und Irene hatte sich nicht gegen seine Einstellung gewehrt.
Heute schien es, als wäre er immer schon hier gewesen. Seit Julian dazugestoßen war, waren sie mehr den je ein Team, auch wenn die Beiden es nie zugeben würden.
Julians prüfender Blick wanderte zum Thunder Mountain. Sofort ließ sein Optimismus nach.
»Wo sind die denn auf einmal hergekommen?« Hinter dem nebelverhangenen Gipfel türmten sich dicke, grauschwarze Wolkenmassen, die sich gemächlich zu riesigen Gebilden zusammenfügten und langsam den Berg einhüllten.
Matt schnaubte ärgerlich.
»Klar waren sie das nicht. Hast du es noch immer nicht gecheckt? Wir haben Oktober, leben in den Bergen. Hier passiert sowas schon mal.«
Erstaunt sah Julian, wie die Sonne soeben hinter einer dünnen Wolkenwand verschwand. Ein kühler Luftzug streifte ihn und bewegte die Äste der nahestehenden Bäume. Dabei hatte sich vorher noch kein Hälmchen geregt.
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