Paul hatte sich bei dieser glasklaren Einstellung von Brittas Eltern zwar immer gewundert, dass Brittas Vater ungeachtet des Blumenmeers vor dem Elternhaus nicht nur an den Geburtstagen seiner Frau aus heiterem Himmel mit einem Strauß roter Rosen vor der Türe gestanden oder hin und wieder ohne Auftrag seiner Frau aus der Stadt Wein und Tapas mitgebracht und dann von seiner Frau stets den Satz gehört hatte: „Schatz, das brauchst Du doch nicht.“
Gewundert hatte sich Paul hingegen nicht, als Stephan eines Abends in der Türe stand und seiner Frau einen Strauß Blumen überreichte und mit den Worten begrüßt wurde: „Danke Stephan, Du weißt offenbar, was sich gehört, wenn man zu jemandem nach Hause auf ein Glas Wein eingeladen wird.“ Es hatte sich eben einfach gehört, dass sich seine Frau über das übliche Mitbringsel mehr als überschwänglich gefreut und Stephan zur Begrüßung mit beiden Armen umschlungen hatte. Schließlich war man seit Jahren gut befreundet und hatte so manches feucht-fröhliche Fest miteinander gefeiert.
Die Weichen für ein langes und freudvolles gemeinsames Leben waren für Paul damit hinreichend gestellt, man war verheiratet, hatte im eigenen Haus gelebt, hatte beiden Partnern hinreichend Spielraum für die Selbstentfaltung gelassen und mit der gemeinsamen Tochter ein festes Bindeglied, um selbst stürmische Zeiten gemeinsam zu überdauern. Brittas Mutter hatte zwar schon häufig gesagt, ohne Britta hätten sie und ihr Mann sich längst scheiden lassen, doch musste das ja nicht so gemeint gewesen sein. Dennoch war Britta trotz Lisa nun aber weg.
Seit seiner Heirat hatte sich Paul ganz der Arbeit verschrieben, hatte Überstunden geschoben und schon bald gutes Geld verdient. Britta war bei der Frage, ob man sich ein eigenes Haus kaufen oder lieber eine Wohnung mieten soll, zu Beginn noch unentschieden. Wer wusste damals schon, ob man sich mit der Finanzierung am Ende noch übernimmt oder etwas kauft, was sich als Schrottimmobilie erweist, bei der man auf dem Schaden sitzenbleibt, nur weil der Bauträger nach langen Jahren des Prozessierens pleite gegangen ist. Paul hingegen war sehr schnell entschieden und hatte den Neubau auf seinen Namen gekauft. Schließlich lag allein auf seinen Schultern die ganze Finanzierungslast und war es allein seine Verantwortung, dass das Haus abbezahlt ist und der Familie frei von Schulden zur Verfügung steht.
Miteigentum hingegen hätte für Paul bedeutet, dass beide Eheleute finanzielle Verantwortung tragen mit der Folge, dass sich Britta selbst dann genötigt sieht, Vollzeit zu arbeiten, wenn es Kinder gibt. So aber hatte es Britta nach der Geburt von Lisa freigestanden, nur noch halbtags zu arbeiten und noch Zeit für sich und das Kind zu haben.
Paul hatte hier also rein gar nichts zu bereuen. Das Haus war im Zeitpunkt der Trennung von Britta bereits voll abbezahlt und hatte sich mühelos verkaufen lassen. Auch hatten sich die Ersparnisse von Paul und Britta in etwa die Waage gehalten, so dass es auch insoweit nichts zu streiten gab. Man hatte sich getrennt, wie man begonnen hatte. Auf eigenen Füßen stehend und von nichts und niemandem finanziell abhängig.
Natürlich hätte man die finanzielle Grundlage von Ehe und Familie auch anders gestalten können. Andere Ehepaare etwa hatten sich damals ganz bewusst für ein Modell entschieden, bei dem der eine Partner allein arbeitet und die Finanzierung der Immobilie stemmt, die im Eigentum des anderen steht, damit der für den Fall des Falles abgesichert ist und sich in Ruhe voll und ganz für die Familie und die Betreuung der Kinder verwenden kann.
Doch Hand aufs Herz: Was wäre damit gewonnen gewesen? Britta hatte die ganze Zeit der Ehe ihr eigenes Geld gehabt, hatte sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten, ohne Paul fragen zu müssen, alles kaufen können, was sie gewollt hatte. Sie war in finanzieller Hinsicht also völlig frei in der Entscheidung gewesen. Sie hätte jederzeit gehen können, wenn sie gewollt hätte, und zwar bis zum Schluss.
Paul hatte sich hier also wirklich rein gar nichts vorzuwerfen gehabt und also hatte es ihn an diesem Tag auch vergessen gemacht, welchem Druck er bisweilen ausgesetzt gewesen war, um in der Firma aufzusteigen, kontinuierlich sein Einkommen zu verbessern, damit neben der monatlichen Annuität nicht nur das Nötigste vorhanden gewesen war, sondern sich die Familie auch mal was leisten und regelmäßig in den Sommerurlaub fahren konnte. All das hatte über die Jahre hin stets bestens geklappt, wenngleich es von Paul bisweilen sehr viel Kraft abverlangt und natürlich auch sehr viel Zeiteinsatz bedeutet hatte.
Sicher, die monatliche Belastung wäre um gut ein Drittel geringer ausgefallen, hätte man nur zur Miete gewohnt. Doch wie stünde man da heute da. In Saus und Braus gelebt und am Ende ohne einen Heller in der Tasche. Mit Sicherheit hatte das für Paul nichts zu tun und also war er jetzt froh daran zu denken, dass nicht nur er, sondern auch seine Ex aus dem Hausverkauf genügend Geld realisiert hatten, um jeweils neu anzufangen.
Paul hatte dabei die ganze Zeit über unverändert auf die Fassade der Klosterkirche von Lorch gestarrt, hatte mit der Zeit in der Magengrube ein wohlig warmes Gefühl der Zufriedenheit verspürt und zugleich bemerkt, dass die Sonne hinter dem dritten Kaiserberg bereits verschwunden gewesen war.
Die Nacht war mittlerweile hereingebrochen, ein breiter Schatten hatte sich nun über die Fassade des Sandsteingebäudes gelegt und dabei all die Unebenheiten überdeckt, welche Paul gerade erst bemerkt und vor seinem geistigen Auge zur Bildergeschichte zusammengesetzt hatte.
Folglich war es für Paul Zeit gewesen, nachhause zu gehen, sich eine Tiefkühlpizza in den Ofen zu schieben und eine gute Flasche Rotwein zu trinken - Trollinger versteht sich.
Mitten in der Nacht wachte Paul schweißgebadet auf. Seine Tochter Lisa, von der er schon länger nichts mehr gehört hatte, drängte sich in sein Bewusstsein und mit ihr die Frage: „Habe ich mein Kind die ganzen Jahre über vernachlässigt?“
Paul setzte sich auf und zurück an den Tisch. Die Pizza war bis auf einen kleinen Rest bereits verdrückt, doch vom Wein war noch ein gutes Glas vorhanden und also schenkte Paul sich ein. Er blickte durch das offene Fenster in das Dunkel des gegenüberliegenden Waldes. Kein Mucks war zu hören, nichts regte sich.
Im Kopf hingegen sausten die Gedanken unkontrolliert umher und Paul hatte Mühe, sie nach und nach zu ordnen. Er dachte: „Erst einmal einen guten Schluck Wein und die restliche Pizza als nachgereichte Grundlage sozusagen. Dann sehen wir weiter.“
Lisa also! Fürwahr! Paul hatte für sein Kind wenig Zeit gehabt. Morgens früh aus dem Haus, wenn Lisa noch schläft, abends spät zurück, wenn Lisa schon wieder schläft. So war es zweifellos zu Beginn ihres Lebens. Doch was hätte Paul schon mit ihr anfangen sollen, wenn er später zur Arbeit gegangen oder früher nach Hause gekommen wäre. Frühstück machen oder Abendessen servieren. Das war doch eindeutig die Domäne von Britta. Lisa hätte folglich rein gar nichts davon gehabt, wenn sie den Vater zu dieser Zeit mehr gesehen hätte, als dies tatsächlich der Fall gewesen war, im Gegenteil.
Ohne Überstunden keine Beförderung, ohne Beförderung keine Gehaltsanhebung und ohne mehr Geld auch nicht all die schönen Spielsachen, die Lisas Mutter wo auch immer über die Jahre herbeigeschafft und mit denen Lisa über die Jahre hinweg lieb gespielt hatte.
Nichts von alledem war jemals abgenutzt gewesen, nichts von alledem hatte Macken gehabt oder war beschädigt gewesen. Lisa hatte also allen Grund gehabt, glücklich zu sein und nach Pauls Eindruck war sie es auch tatsächlich gewesen. Sogar ein eigenes Spielzimmer hatte es im Haus gegeben. Andere Kinder hatten da noch im Wohnzimmer oder in der Küche spielen müssen, während Lisa als Papas Prinzessin alleinige Herrin ihres Reiches war.
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