Er fragte mich nicht, wie es mir gehe, was der Job mache oder der Club, sondern schaltete sein Berufslächeln ab und jammerte: „Ich bin ruiniert. Ich war gerade bei dieser Ganzkörper-Tätowierten, über die euer Weltblatt kürzlich berichtet hat, wollte mal testen, ob die Tussi was taugt für Karolins Show.“
„Und“, fragte ich Thilo, „ist wohl zu seriös dafür?“
„Deine Ironie in Ehren. Verarschen kann ich mich selbst. Nee, aber die Lady ist einfach zu trashig, selbst für uns. Und leider dazu noch extrem blöd. Kriegt keinen richtigen Satz raus. Und wenn man sie fragt, warum sie ihren ganzen Körper tätowiert hat, also außer ihrer Muschi, wie sie sagt, was ich aber nicht verifiziert habe, also da antwortet sie nur: ‚Weil ich es schön finde.‘ Da kann man doch keine ordentliche Sendung draus machen. Außerdem wollte sie 1 000 Euro haben plus Spesen, die doofe Kuh. Nobelpreisträger krieg ich für lau. Ich muss für Sonntag auf die Schnelle jemanden ganz Spektakulären finden, sonst räumt die Will wieder alles ab und die Werbekunden wollen wieder Rabatte wegen der miesen Quote. Kennst du nicht irgend jemanden?“
Na also, jetzt kam er raus mit der Sprache. Dass einer wie Thilo nicht einfach nur mal auf einen Kaffee vorbeikommt, um mit einem alten Kumpel über alte Zeiten zu reden, hätte mir schon vorher klar sein können. Aber Leute wie er sind Meister darin, sich von anderen aushelfen zu lassen.
„In welche Richtung denkst du?“, fragte ich sehr gedehnt, denn nun sah ich, wie die Hüterin des ruhenden Verkehrs unter den Scheibenwischer des Luxuswagens von Großmaul Thilo einen Zettel klemmte, wahrscheinlich einen sehr teuren.
„Na, am liebsten wäre mir die Freundin des Papstes, oder wenigstens eines Kardinals, die der Karolin gesteht: ‚Ich habe abgetrieben.‘ Damit kämen wir nämlich in die Agenturen und in die „Tagesschau“ und Bild müsste nachziehen. Das wäre was. Man wird ja noch träumen dürfen.“
Jetzt ritt mich der Teufel. Ich erzählte dem Fernsehmann die Geschichte von Heinrich Weinrich, dem großen Reporter, der nun sein Dasein als Schlussredakteur fristen muss, weil er sich aus welchen Gründen auch immer nur noch reimend ausdrückt.
Zunächst zeigte sich Thilo mäßig interessiert, doch hörte er konzentriert zu, fragte dann misstrauisch: „Sag mal, du willst mich doch verarschen, das ist doch ein abgekartetes Spiel, so wie einst der Bleistiftlutscher bei ‚Wetten, dass‘. Oder?“
Ich versicherte Thilo beim Leben meiner Katze, dass der Fall Heinrich Weinrich, so skurril wie tragisch er sich anhöre, absolut authentisch sei. Ich habe übrigens keine Katze. Das sagte ich dem Ex-Kommilitonen jedoch nicht.
Auf einmal war er in hohem Maße interessiert und wollte wissen, wie er denn am besten mit dem Reimer in Kontakt kommen könnte. „Heute Abend in der Adlerklause“, schlug ich vor, „aber tu’ so, als ob du zufällig dort Gast bist und lass mich am besten außen vor. Ich weiß nämlich nicht, wie Heini Weini reagiert.“
Ich beschrieb Thilo den Weg, und er war auf einmal sehr neugierig.
Verdammt, ich war spät dran heute Abend. Buddha hatte mich aufgehalten. Normalerweise ging ihm der gesamte Sportteil der Zeitung am Arsch vorbei, außer wenn sich Leser beschwerten, ihr Sport, sei es nun Tanzen oder Minigolf oder Tauziehen, finde zu wenig Erwähnung im Blatt.
Ausgerechnet heute, wo mich Heini Weini in seine Stammkneipe eingeladen hatte, was ich als Auszeichnung empfand, ausgerechnet heute wollte der Chefredakteur meinen Vorbericht für das Bundesligaspiel lesen. Er runzelte die Stirn und nörgelte: „Also, mein Lieber, nicht dass ich Ihre Fachkompetenz für Fußball anzweifle, doch was Sie schreiben, ist Defätismus pur. Denken Sie doch mal daran, was mit unserer Auflage passiert, wenn wir absteigen in die Zweitliga!“
Er sprach das Wort „Zweitliga“ mit einer Verachtung aus, als sei es grob unanständig. Pflichtschuldigst widersprach ich: „Aber wir können doch nicht so tun, als ob alles okay wäre mit dem Club. Der Trainer hat kein Konzept. Genug Geld für frische Spieler gibt es auch nicht, weil der Hauptsponsor auf seine alten Tage das Golfen entdeckt hat. Wir dürfen uns nicht lächerlich machen bei den eigenen Lesern, jedenfalls keinesfalls bei denen, die noch ein bisschen Fußballverstand haben, und nicht besoffen sind vor lauter Lokalpatriotismus.“
Buddha griff wie gewohnt hinter seine Hosenträger und ordnete an: „Nee, müssen Sie auch nicht. Recherchieren Sie doch einfach mal, welcher haushohe Favorit in der Bundesliga in den letzten fünf oder zehn Jahren von einem krassen Außenseiter geschlagen wurde. Machen Sie daraus eine Liste, aber nicht zu klein, und garnieren Sie die mit vielen hübschen Fotos.“ Eine verdammt gute Idee. Das musste ich zugeben. Leider war sie nicht von mir. Ich versprach: „Okay, so machen wir es“, und machte mich ans Werk, was nicht schwierig, aber aufwendig war.
Als ich nach einem kurzen, verregneten Spaziergang durch die Innenstadt die Tür zur Adlerklause öffnete, sah ich wegen dichter Rauchschwaden im schummrigen Licht zunächst nur wenig, hörte aber vielstimmiges Gemurmel und Lachen. Ich hatte ganz vergessen, dass man in Heinrichs Stammkneipe die Lizenz zum Rauchen hat.
Der Laden war voll. Obwohl einige der Tische nicht besetzt waren, drängten sich die Menschen, meist Männer mittleren Alters, um den Tresen, der sich über die gesamte Raumlänge hinzog. Hoch oben an der Wand hing ein ausgestopfter Adler, wohl der Namensgeber der Kneipe. Ich sah mich suchend um.
Eine gertenschlanke Frau mit kurzen, offensichtlich hennarot gefärbten Haaren und knallrot geschminkten Lippen, zwei Knöpfe ihrer arg eng gekauften Bluse geöffnet, sah mich aufmunternd an: „Du bist doch der Kollege vom Sport“, duzte sie gleich, obwohl sie mich bei den Besuchen zuvor kaum beachtet hatte. „Heini hat dich schon erwartet. Ich bin übrigens die Charlo, also eigentlich Charlotte, aber nur Lotte, das war mir zu blöd. Wieder mal: willkommen in meinem Reich“, lächelte sie ein Lächeln, das sie wohl für verführerisch hielt, und stellte mehr fest, als dass sie fragte: „Ein Pils!“ Jetzt erst sah ich Heini am anderen Ende der Theke. Er unterhielt sich intensiv mit Thilo, dem Fernseh-Großmaul. Wenn das mal gut gehen würde. Heini sah mich, rief mit seinem dominanten Bass quer durch den Raum: „Schön, dass du da bist, ich hätte dich sonst arg vermisst. Komm näher, denn der Adler ist kein Eichelhäher“, fügte er vollständig sinnfrei hinzu. Einige der Tresen-Umlagerer lächelten wohlgefällig.
Thilo lachte so laut, als habe er den tollsten Witz seines Lebens gehört. Mir fiel dazu die Weisheit ein: Jeden Tag wird die Zahl der Leute größer, die mich am Arsch lecken können. Ich schlängelte mich an den Tresen-Stehern vorbei, zwei kannte ich von irgendeinem Sportereignis, grüßte die beiden, wurde respektvoll zurückgegrüßt.
Als ich Heini zunickte, stellte er mir Thilo vor. „Das ist der Thilo vom Privatsender, ein charmanter Blender. Er sagt, er sei in der Stadt, weil er für seine Talkshow keine Gäste hat. Nun klopft er mich weich mit Korn und Bier, dass ich vor seine Kamera marschier’.“
Thilo schaute auf seine manikürten Fingernägel. Der Wagenschlüssel mit dem unübersehbaren Porsche-Wappen lag auf dem Tresen, daneben ein Bierdeckel mit vielen Strichen drauf.
Ich reichte Thilo förmlich die Hand, murmelte etwas, das wie der Mainzelmännchen-Gruß „Guddnabnd“ klang. Thilo nickte nur. Immerhin hielt er sich an unsere Verabredung, so zu tun, als würden wir uns nicht kennen. Ich bekam plötzlich ein schlechtes Gewissen dem großen Weinrich gegenüber.
Doch er schien nichts bemerkt zu haben, nahm einen großen Schluck Bier, wischte sich mit seiner dunkel behaarten Riesenhand kurz über den Mund, zupfte dann an seinem linken Ohrläppchen, eine für den Kraftkerl eher untypische Verlegenheitsgeste.
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