„Du kanntest ihn also noch?“, fragte ich.
„Na klar, er hat mich und Buddha ja noch selbst eingestellt, am selben Tag. Deshalb genieße ich hier in der Redaktion nicht nur Presse-, sondern auch Narrenfreiheit.“
Weinrich lachte und musste husten. Er fuhr dann fort: „Doch die Folgen des Falls Wiese waren schlimm. Der Alte, eigentlich ein vertrauensvoller Kumpeltyp, wurde extrem misstrauisch. Und dann passierte die Sache mit seinem Sohn, ein Sonnyboy, der die Frauen liebte und den Whisky und seine heißen BMWs. Völlig blau lenkte er seine Maschine gegen den einzigen Baum auf der Landstraße nach Norden, da wo heute noch das Kreuz steht, nicht das Kreuz, sondern eines von vielen, denn die Kreuze werden oft geklaut. Nach dem Tod seines Sohnes war der Alte nicht mehr nur extrem misstrauisch, er war ein gebrochener Mann.“
„Selbstmord?“, fragte ich.
„Dafür gab es keinen Grund. Der Sohn war überhaupt nicht der Typ dafür, sich selbst umzubringen. Nee, Todesursachen waren eindeutig Whisky und BMW. Der Alte bestimmte nun, dass seine Tochter – die Mutter war schon länger tot – den Verlag erben sollte. Doch die zickte rum, wollte lieber ihr Studium der Kunstgeschichte in Florenz beenden. Naja, der Alte hat sie dann doch überredet oder überzeugt oder genötigt. Ich weiß es nicht, war ja nicht dabei, leider. Wäre sicher eine tiefgründende Geschichte gewesen.“
„Aber sie macht ihre Sache doch ganz gut, oder?“, warf ich ein.
„Naja, jetzt. Zu Anfang machte sie einige Fehler. Weißt du, was ihre erste Entscheidung war?“
„Nee, wie sollte ich?“
„Recherchieren, Herr Kollege!“, klang es jetzt etwas von oben herab, „ihr erster Ukas nach dem Tod des Alten aus physischem und psychischem Gram war, ein totales Alkoholverbot zu verhängen nicht nur in der Kantine sondern im ganzen Verlag. Darüber stand eine Personalie im Spiegel. Seitdem hält sich unsere First Lady völlig raus, bis auf das Rauchverbot, also nach außen jedenfalls. Nur in Personalfragen, da mischt sie intern kräftig mit, und durchaus mit Erfolg. Denn eines hat die Dame neben ihrem unbestrittenen Kunstverstand: eine fast schon bedrohliche Menschenkenntnis. Sie durchschaut jeden Blender spätestens nach fünf Minuten.“
Nun wurde mir mulmig wegen der Begegnung mit ihr beim Reitturnier. Ich dachte kurz nach und war sehr zufrieden, dass unser Gespräch nicht einmal zwei Minuten gedauert hatte.
Heinrich Weinrich blies einen Rauchkringel in sein Büro und fragte mich: „Kennst du eigentlich den Spruch, der hinter ihrem Schreibtisch hängt?“ – „Nein“, antwortete ich wahrheitsgemäß, „ich hatte noch nicht das Vergnügen, ihr im Chefbüro eine Visite abstatten zu dürfen.“
„Sei froh“, grinste Weinrich, „denn das ist meistens unangenehm. Also der Spruch lautet: ‚Die erste Generation schafft Vermögen, die zweite verwaltet Vermögen, die dritte studiert Kunstgeschichte und die vierte verkommt vollends‘. Stammt von Bismarck. Und wenn jemand unsere Besitzerin darauf anspricht, dann sagt sie ‚Sie sprechen hier übrigens mit der zweiten Generation.‘ Das nennt man wohl Selbstironie oder wie. Au, das reimt sich.“
Ich bedankte mich bei meinem Mentor und machte mich auf den Weg zu meinem Schreibtisch. Unterwegs fiel mir ein, dass ich gar nicht danach gefragt hatte, warum die unzweifelhaft kluge und auch nun im fortgeschrittenen Alter nach wie vor attraktive Frau nicht verheiratet war, ob die Gerüchte, sie ziehe Frauen Männern vor, denn stimmten. Doch ich traute mich nicht umzukehren.
Der Tag, an dem Heinrich Weinrich zum ersten Mal nach seinem Zwangsurlaub wieder in der Redaktion auftauchte, war der wohl verrückteste in meinem Leben. Na ja, der zweitverrückteste.
Den bizarrsten erlebte ich als fünf Jahre alter Bub, wie meine Oma mich immer nannte, nachdem ich einer Nonne in meinem katholischen Kindergarten die Haube vom Kopf gerissen hatte, um zu erfahren, ob sie wirklich, wie mein Freund Marvin behauptete, kahl rasiert war. Ich bekam von Schwester Walburga eine schallende Ohrfeige und musste wegen „Insubordination“ – was das genau bedeutet, musste meine Mama im Duden nachschlagen – den frommen Kindergarten verlassen. Doch wusste ich nun, dass Schwester Walburga keineswegs eine Glatze trug, sondern ihre Haare raspelkurz. Und ich hatte erfahren, dass Wissenwollen schmerzhaft sein kann. Marvin hat mich sehr bewundert.
Obwohl ich brennend gern wissen wollte, wie Heinrich Weinrich seine Degradierung vom Chefreporter zum Schlussredakteur aufgenommen hatte, und ob er immer noch ständig in schlechten Reimen sprach und schrieb, zögerte ich, ihn in seinem Exil-Büro unterm Dach zu besuchen. Mir wollte einfach kein Vorwand einfallen.
Also las ich die neueste Ausgabe des Kicker noch sorgfältiger als sonst, guckte im Internet, was die Kollegen von bild.de produziert hatten, trank einen Kaffee mehr als üblich und fragte den Büroboten, während dieser die Post verteilte, ob er schon bei Weinrich gewesen sei. „Jaaa“, sagte er sehr gedehnt und fiel ins Flüstern, „der hat es da ganz gemütlich unterm Dach, der ganze Dachboden für einen Mann, dat is doch Verschwendung. Da kann er tun und lassen, wat er will. Es stinkt auch schon wie in seinem alten Zimmer nach Zigarrenqualm. Aber, dat janz im Vertrauen, bei der Post für ihn war auch ein Brief von einer Klinik für Psiatrie.“
„Psychiatrie?“, fragte ich den unüberhörbar aus dem Rheinland stammenden Boten. Er nickte: „Sach‘ ich doch!“
Sollte, überlegte ich, Heinrich Weinrich gar nicht nur freigestellt oder beurlaubt gewesen sein in den vergangenen Wochen, sondern im Irrenhaus gesessen haben wegen seines Reimticks? Das Wort „Irrenhaus“ strich ich gleich aus meinen Gedanken. Unkorrekt.
Nun gönnte ich mir keinen Aufschub mehr, Weinrich unterm Dach aufzusuchen, auch wenn mir seit Kindergartentagen bewusst war, wie schmerzhaft Erkenntnis sein kann.
Die Redaktion und die Verlagsspitze arbeiteten in einem großzügigen Bürgerhaus in der Innenstadt. Der Verleger hatte das im Krieg durch Bomben weitgehend zerstörte Haus Anfang der 50er Jahre, als es mit seinem Blatt aufwärts ging und er ziemlich schnell ziemlich reich wurde, gekauft und für viel Geld restaurieren lassen. Nun stand es unter Denkmalschutz. Innen war das Gebäude gerade noch zeitgemäß. Wir normalen Redakteure saßen auf fünf Etagen verteilt in größeren Räumen zu dritt, viert oder fünft, je nach Größe des Ressorts, die Ressortleiter hatten kleine Einzelbüros, ebenso die zwei stellvertretenden Chefredakteure, Buddha und die Verlagschefin repräsentierten in repräsentativen Räumen, den ehemaligen Salons. Nur zwei Personen, die nicht über „Personalverantwortung“, wie das im Managerdeutsch heißt, verfügten, hatten Einzelzimmer. Chefreporter, nun also a. D., Heinrich Weinrich und die „Ratgeber-Tante“, wie wir Rosi Heckmann heimlich nannten. Sie gab Lesern gute oder zumindest gut gemeinte Ratschläge für alle Lebenslagen, wenn es mit dem Sex nicht mehr klappte, oder die Rente falsch berechnet worden war, wenn der Hund Durchfall oder ihre Rosen Läuse hatten. Einmal in der Woche, immer samstags, schilderte Rosi Leserfragen und gab Antworten, die sie für lebensklug hielt. Wir, die wir uns für richtige Journalisten hielten, nahmen sie nicht ernst. Doch bei jedem Copytest schnitten ihre Beiträge bei den Lesern besser ab als die politischen Kommentare oder die preisgekrönten Reportagen von Heinrich Weinrich. Ein Grund, weshalb die beiden sich nicht mochten, und er ihre Texte als „Semi-Journalismus“ oder als „Gesülze“ abtat.
Fünf Etagen waren durch zwei Fahrstühle und einen Paternoster erreichbar. Doch zum sechsten Geschoss, wo bis zu ihrer Entlassung drei Schlussredakteure unterm Dach Dach inmitten ausrangierter Möbel und Bänden mit vergilbten Zeitungen gearbeitet hatten, führte nur eine knarrende Holztreppe. Ich stieg hinauf, klopfte oben an der Tür und hörte Weinrichs Bass: „Komm herein, sei ein Schwein, bring Glück herein.“
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