1 ...6 7 8 10 11 12 ...22 „Ich sage dir nur, wie ich mich fühle.“
Mark. Dieser Name markierte den Beginn einer Zeit, in der aufhörte, Alina abends auszuführen. Und wenn er es sich genau überlegte, dann hatte diese Zeit wohl bis zum heutigen Tage angedauert.
Diese unrühmliche Sache hatte sich in jener Phase ereignet, als Alexander und Alina sich in seiner Studienzeit regelmäßig verabredeten. Sie hatten damals zahllose Abende im Crystal’s verbracht, einer kleinen Bar am anderen Ende des Dorfes, die auch heute noch immer großen Zulauf von Seiten der jungen Generation hatte.
Mark war ein Schulfreund von Alina gewesen, der sich schon früher immer um sie beworben hatte und dabei regelmäßig abgeblitzt war. Er hatte sie schließlich eines Abends zusammen mit Alexander zufällig im Crystal’s getroffen, wo er mit einigen Kollegen herumhing, die alle in einer der dunkleren Ecken des Clubs saßen und auf dem flachen Tisch vor sich mindestens fünf Shishas in verschiedenen Geschmacksrichtungen stehen hatten. Dieser Mark hatte sich angewöhnt, bei jedem ihrer Treffen, an dem er auch – zufällig oder nicht – im Crystal’s war, an ihren Tisch zu kommen und Alina mit aller Mühe in ein Gespräch zu verwickeln. Alexander hätte ihn eigentlich gar nicht mal unsympathisch gefunden, wenn ihn seine respektlose Art nicht so abgestoßen hätte … und die Tatsache, dass er offensichtlich weder fähig noch willens war, Alina in Ruhe zu lassen. Mehrmals verwies er ihn klar und deutlich zurück in die Ecke zu seinen Melonen- und Apfelzimtdampf paffenden Kumpanen. Alina schlug vor, dass sie doch einfach in die alternative zweite Bar im Dorf namens The Club gehen könnten, doch Alexander machte ihr klar, dass dies kein Ort für ein romantisches Date, sondern vielmehr für allerlei zwielichtiges Gesindel war. In Wahrheit wollte er das Kampffeld nicht von sich aus räumen. Niemals.
Dann eines Abends, es war Valentinstag, spielte der DJ die romantischsten Schnulzen rauf und runter. Bald sahen sie durch das dämmrige Licht eine Gestalt, die unsicheren Schrittes, durch die eng umschlungen tanzenden Gäste hindurch, auf ihren Tisch zuwankte, und deren Umrisse sie nur zu gut kannten. Es war Mark, der sich offensichtlich Mut angetrunken hatte, um Alina in der Gegenwart ihres Mackers ansprechen zu können. Er trat an den Tisch und ersuchte Alina untertänigst um einen Tanz.
Alina wusste in diesem Moment nicht, was sie sagen sollte, und sah ratlos zu Alexander auf. Dieser bat Mark kurzerhand zu einem Gespräch unter Männern zum Hinterausgang, wo einige sechzehnjährige Mädchen frierend in der abendlichen Februarkälte standen und gemeinsam einen Joint pafften.
Er verpasste ihm ein blaues Auge, schlug ihm die zwei oberen Schneidezähne aus, brach ihm als Zugabe noch den rechten Unterarm (was eigentlich mehr aus Versehen geschah, da es ihm, einmal angefangen, nicht gerade leicht fiel, wieder aufzuhören) und legte ihm nahe, seine Stammkneipe zu wechseln und ihm idealerweise nie wieder unter die Augen zu geraten.
Die Mädchen hatten angefangen zu kreischen. Eines davon hatte den Joint fallengelassen.
Alexander ließ Mark, der allem Anschein nach das Bewusstsein verloren hatte, an der neonblau gestrichenen Außenwand des Crystal’s niedersinken, holte für seine Geliebte ein Wodka Lemon an der Bar und ging dann seelenruhig zurück an den Tisch.
Etwa zwanzig Minuten später wurde er von der Polizei verhaftet und blieb die ganze Nacht auf dem Revier. Alina holte ihn dort am nächsten Morgen ab. Er vergaß nie den verstörten Blick aus ihren roten, verweinten Augen, gepaart mit einem Ausdruck von verzweifelter, liebender Zuneigung. Sie gingen gemeinsam in ein Café um dort zu frühstücken, und Alina fragte ihn, warum er das getan habe. Er antwortete ihr, weil er sie beschützen wollte. „Weil du alles bist, was ich habe, Alina. Wer versucht, dich mir wegzunehmen, der wird es bereuen“, sagte er leise und sah dabei so hinreißend aus, dass sie ihm am liebsten sofort um den Hals gefallen wäre; wie er sie dabei aus seinen ozeanblauen Augen anblickte, das war ein Blick, den sie nie vergessen sollte, und einige Tage später würde er ihr mit demselben Blick seinen Heiratsantrag machen.
„Du würdest mich niemals betrügen, nicht wahr?“, fragte er, während sie immer tiefer versank in den blauen Ozeanen, die seine Augen waren. So tief, dass sie den warnenden Unterton in seinen Worten nicht bemerkte.
„Nein … nie im Leben würde ich das tun“, wisperte sie mit brüchiger Stimme.
„Gut. Sehr gut, Baby“, raunte er und küsste ihre Hand. Alina lächelte, fast verlegen, wusste darauf nichts zu entgegnen, und fragte an diesem Morgen nicht mehr weiter. Sie spürte, dass ihr sehr warm geworden war und ihre Wangen sicherlich feuerrot glühten. Als sie gingen, bezahlte sie die Rechnung.
Einige Tage später erhielt Alina einen handschriftlichen Brief von Mark. Er bat darin schüchtern um Entschuldigung, äußerte sein Verständnis für Alexanders Wutausbruch und versprach reumütig, sie in Zukunft nie wieder zu belästigen.
Seit dieser Nacht waren sie so gut wie nicht mehr abends ausgegangen. Fast so, als hätten sie eine stille Vereinbarung hierzu getroffen.
Man verurteilte Alexander später zu hundert Sozialstunden. Und damit war die Sache erledigt.
Heute Abend war wirklich das Letzte, was Alexander tun wollte, sich an diese dunkle und dumme Episode aus seinem Leben zu erinnern. Die Bilder spukten wie kleine, nervtötende Geister in seinem Hirn umher. Und wahrscheinlich würde das nun für den Rest des Tages so bleiben. Seine Kopfschmerzen wurden schlimmer. Schöne Scheiße , dachte er. Er holte sich noch eine Pepsi. „Vielleicht war ich etwas hart zu dem Kerl. Zu dem Kerl da draußen, meine ich. Aber du hast nicht gehört, was sie mir auf der Arbeit erzählt haben. Das sind totale Fanatiker.“
Als er zurück kam, blätterte seine Frau in dem Traktat. Sie hatte ihren Kopf auf die linke Hand gestützt und gähnte. „Hast du gehört?“
„Was haben Sie dir denn Schlimmes erzählt?“
Alexander zögerte. Doch nun hatte er schon damit angefangen. „Nun ja … die Kinder der Endzeit glauben daran, dass das Ausbleiben der Geburten die Ankunft Christi verkündet. Dieser wird dann in sehr naher Zukunft auf die Erde kommen und alle seine Kinder ins Himmelreich aufnehmen, sprich, in diesem Fall natürlich nur alle Mitglieder dieser Sekte. Zuvor wird aber eine Frau ein einziges weiteres Kind auf die Welt bringen, und … dieses Kind ist der Antichrist oder symbolisiert ihn, oder was auch immer, und wird dann mit seinen Dämonen die Erde überfluten und alle Ungläubigen, die von Jesus und seinen erleuchteten Kindern hier zurückgelassen wurden, in alle Ewigkeit mit seinem Dreizack in den Hintern pieken.“
Alina sah ihn ungläubig an. Sie schien zu überlegen, ob er sie auf den Arm nehmen wollte. „Na ja, davon steht hier jedenfalls nichts drin“, sagte sie schließlich, stand auf und warf die Broschüre in den Küchenabfall. Alexander merkte, dass ihre Hände zu zittern begonnen hatten. „Ich frage mich, woher deine Arbeitskollegen das wissen wollen. Neulich kam ein kurzer Bericht über die Kinder der Endzeit, irgendwo auf einem der hinteren Sender …“
„Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass dort so etwas erwähnt wird. Das läuft hinter den Kulissen ab.“
Alina setzte sich wieder nieder und schlug die Beine übereinander, dann verschränkte sie kokett die Arme vor der Brust. Schließlich lächelte sie spitzbübisch. „Was ist?“, fragte Alexander ratlos.
„Ich finde das total übertrieben. Ich weiß nicht, warum du in so einer apokalyptischen Stimmung bist“, säuselte sie dann mit hoher, verstellter Stimme, und Alexander begriff erst einen Moment später, dass sie ihn gerade imitierte. Er seufzte und lächelte sie dann an.
„Ich hatte von diesen Verrückten zuvor nichts gehört. Aber gut, vielleicht hattest du ein Stück weit recht, Schatz. Das hab ich in dem Moment eingesehen, als der Typ hier durch die Tür wollte. Was, wenn er von dem Kind gewusst hätte?“ Er schüttelte den Kopf und blickte aus dem Fenster, wo sich ihm lediglich ein grau gefärbter Himmel darbot.
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