„Na ja, die haben gesagt, dass er sich über’s Trinkwasser verbreitet hat“, rief Dieter aus und leerte sein Glas. „Was irgendwie logisch erscheint, da dieser Drecksmeteorit ja mitten ins Meer fallen musste.“
„Schon, aber vielleicht gibt es irgendwo jemanden, der seitdem keinen Tropfen Trinkwasser benutzt hat?“
„Du meinst, ein fetter Typ, der irgendwo auf seiner Couch rumhängt, sich von einem riesigen Jahresvorrat an Bier, Cola und Red Bull ernährt und seit einem Monat nicht mehr unter der Dusche war?“ Dieter, der selbst einen beachtlichen Leibesumfang aufwies, sah ihn an, als könnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass ein solches Wesen auf diesem Planeten existierte.
„Möglich.“ Auch Alexander leerte sein Glas. Ihm gelang es ohne Mühe, genauso besorgt dreinzublicken wie die anderen, und darüber war er froh. Er bemerkte jedoch, dass sein Atem schneller ging als gewöhnlich, und er konnte diese Reaktion beim besten Willen nicht unterdrücken. Daher entschloss er sich, eine dritte Whisky-Cola zu bestellen.
Als man sie ihm brachte, blickte er einen Moment lang in die schwarzbraune Tiefe des Glases, so als ob er sich über den Rand eines steinernen Brunnens beugte. Für einen Moment glaubte er, wenn er sich nur fest konzentrierte, könne er darin kleine, kaum sichtbare, bedrohlich geformte Organismen sehen, mit Stacheln übersät und von einer unheilvollen, außerirdischen Lebenskraft erfüllt, die sie, die Menschen, heimgesucht hatte. Dann sah er sein eigenes Gesicht, dass sich auf der zitternden Oberfläche spiegelte, und er erschrak über den unsinnig ängstlichen Ausdruck in seinen Augen und hob schnell den Kopf. Das alles konnte doch gar nicht wahr sein. Außerirdischer Virus. Was für ein Scheiß.
„Selbst wenn das nicht der Fall wäre, dann müssten doch statistisch gesehen zumindest ein oder zwei Männer auf der Welt immun dagegen sein“, grübelte Simon, der den ganzen Abend nur Malzbier getrunken hatte und runzelte die Stirn. „Wahrscheinlich, ohne es selbst zu wissen? Das frage ich mich schon die ganze Zeit, seitdem dieser Wahnsinn begonnen hat.“
„Von so einer Statistik höre ich jetzt aber das erste Mal“, hörte sich Alexander sagen. Er konnte nicht anders, als den Kopf zu seinem Glas hinabzusenken.
„Simon, du bist ja so ein wunderbarer Klugscheißer“, röhrte Mark und schlug seinem Sitznachbarn mit der flachen Hand auf den schmächtigen Rücken, sodass dieser sich an seinem Malzbier verschluckte und einen Hustenanfall bekam, was Mark erneut in brüllendes Gelächter ausbrechen ließ.
„Aber das ist schon richtig so, einfach nie die Hoffnung aufgeben, mein Junge. Der Meinung sind deine Frau und du ja wohl auch, Alex, hab ich recht?“ Mark zwinkerte ihm zu und grinste über das ganze gerötete Gesicht. Alexander warf ihm einen lauernden Blick zu. „Was willst du damit sagen?“
Hatten sie sich das Du angeboten? Er erinnerte sich nicht, aber es machte wohl keinen Unterschied.
Simon stieß einen letzten Huster aus und schob seine Brille, die ihm bei Marks Angriff beinahe ganz von der Nase gerutscht wäre, zurück auf ihren Platz.
„Na ja“, erklärte Mark, „meine Schwester meinte, sie hätte Alina schon zweimal in der Drogerie getroffen, und beide Male hatte sie einen Schwangerschaftstest gekauft. Vor ein paar Tagen bin ich ihr dort selbst über den Weg gelaufen. Sie hat so getan, als würde sie mich nicht kennen. Was soll’s. Jedenfalls hat sie wieder das Gleiche gekauft. Fünf Stück hat sie auf’s Kassenband gelegt. Man könnte ja auf den Gedanken kommen, ihr leitet seit neuestem ein Heim für schwer erziehbare Mädchen!“ Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Tja, da hättet ihr euch wohl ein paar Monate früher an die Arbeit machen müssen. Aber wie ich sagte, ist doch nur recht, wenn die Hoffnung …“
Alexander spürte den Drang aufzuspringen, hielt sich aber im letzten Moment auf dem Sitzpolster und kompensierte den Impuls, indem er sein Glas lautstark auf die eichenhölzerne Tischplatte knallte. „Wie wäre es, wenn du einfach dein versoffenes Mundwerk hältst? Das geht dich einen Scheißdreck an, und ich hab keine Lust, mir deine Sprüche darüber anzuhören. Alina ist fix und fertig wegen dieser Sache. Außerdem erinnerst du dich anscheinend schon nicht mehr an … du weißt, was ich meine.“ Alexanders Stimme war immer lauter geworden und bebte bei den letzten Worten so stark, als würde er während dem Sprechen von unsichtbaren Händen durchgeschüttelt. Dieter fasste ihn am Arm.
Mark legte den Kopf ein wenig schief und presste die Augen zu dünnen Schlitzen zusammen. „Bitte, mach mir bloß keine Angst“, flötete er und leerte dann sein gesamtes Glas mit einem einzigen, langen Schluck.
„Nur eine kleine Warnung“, entgegnete Alexander leise. Er glaubte nicht, dass sein Gegenüber dies hörte, doch vielleicht war das besser so. Er war sich nicht sicher, ob er überhaupt noch in der Verfassung war, dieser Warnung Taten folgen zu lassen. Du musst ruhig bleiben, verdammt, ganz ruhig, atme einfach tief durch. Das nächste Mal verplapperst du dich, wenn du dich nicht im Griff behältst.
Und doch, er hasste Mark dafür, wie er über Alina gesprochen hatte. Wie laut er es herausposaunt hatte. Verdammter Schwätzer. Sie hatte all die Schwangerschaftsteste zur Nachkontrolle gekauft. Und natürlich war sie jedes Mal zum gleichen Ergebnis gekommen.
Einige Sekunden lang herrschte Stille. Nur das leise Geplapper der Rentnerpärchen, die neugierig aus ihrer Ecke herüber schauten, war aus dem Hintergrund zu hören, und die leise, aber eindringliche Stimme von Elvis. Dieter und Simon warfen sich ratlose Blicke zu.
„Ähm … ich denke, wir können darauf vertrauen, dass die Wissenschaftler früher oder später eine Lösung finden“, brach Simon vorsichtig die Stille. „Irgendwo in Bonn, in einem großen Forschungszentrum haben sich einige der besten Wissenschaftler aus Deutschland und anderen Ländern zusammengetan und arbeiten quasi rund um die Uhr. Kam neulich in den Nachrichten. So wird es noch in einigen anderen Ländern der Erde sein, denke ich mir. Und abgesehen davon, was ist mit den weltweiten Samenbanken? Da könnte man auch noch einiges rausholen, wenn man sparsam damit umgeht. Und sonst … besteht immer noch die berechtigte Hoffnung, dass sich jemand findet, der von dem Virus verschont wurde.“
„Das wäre der Messias.“ Dieter, der nach wie vor geistesabwesend in die Ferne blickte, fing an, sein Glas zwischen seinen Händen zu drehen. Alexander, der noch immer ein wenig zitterte, blickte ihn mit einem Ausdruck der Entgeisterung an, verstand seine Worte jedoch nicht.
Mark schien ihn gar nicht gehört zu haben. „Stellt euch das vor. Die Menschheit bangt um Ihre Zukunft. Alle Kerle der Welt verspritzen nur noch nutzlosen, toten Saft. Die Alten gehen einer nach dem anderen über den Jordan und die Bäuche der Frauen bleiben unbefruchtet und leer. Und jetzt stellt euch vor, ihr seid der Einzige, der die Macht hat, die Menschheit von ihrem Joch zu befreien … der Einzige, der das Fortbestehen der Menschheit sichern kann.“ Ein trauriges Lächeln trat auf sein Gesicht. Ohne zu wissen warum, fiel Alexander plötzlich ein, dass Dieter vor mehr als zehn Jahren seine einzige Tochter verloren hatte. Sie war mit drei Jahren an Leukämie gestorben. „Sie würden vor ihm auf die Füße fallen und ihn anbetteln, dass er ihre Frauen schwängert. Dass er die nächste Generation zeugt. Mein lieber Mann, der Typ hätte wirklich den Rest seines Lebens alle Hände voll zu tun. So jemand wäre wie Gott.“
Mark rülpste.
Simon kratzte sich am Kopf.
„Ich geh dann mal besser“, sagte Alexander und stand auf.
-5-
MITTWOCH, 17. SEPTEMBER 2025
Als Alexander an diesem Abend durch das Gartentörchen trat, sah er den Fremden, der vor seiner Haustür stand. Es war ein großer, schlanker, grau gekleideter Mann, dessen ebenfalls graue Haare glatt nach hinten gekämmt waren. Das war alles, was er vorerst von ihm zu Gesicht bekam, da er ihm gerade den Rücken zuwandte. Er redete auf Alina ein, die im Türrahmen lehnte und unablässig nickte. Als sie Alexander entdeckte, hellte sich ihre Miene auf, doch sie sagte nichts, und der Fremde schien noch nicht bemerkt zu haben, dass der Herr des Hauses das Grundstück betreten hatte.
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