Er erinnerte sich, wie er die Faust geballt hatte.
Welche Gedanken in seinem Kopf aufgestiegen waren.
Welche Worte ihm auf der Zunge lagen.
Wie er sie angeblickt hatte.
Wie er förmlich versucht hatte, sie mit seinem Blick auf der Stelle zu fixieren, zu Stein erstarren zu lassen.
Wie sie diesen Blick etwas verwirrt erwidert hatte, um dann ohne zu zögern mit ihrem Wunsch herauszuplatzen, der auf einen Schlag all diese Gedanken vertrieb, der ihn all die Worte vergessen ließ, die sich ihm bereits aufgedrängt hatten, sie ihr an den Kopf zu werfen, der in ihm ungeahnte Glücksgefühle auslöste, die bis heute angehalten hatten, der ihm die ganze Welt plötzlich so bunt, freundlich und wunderbar wie nie zuvor erscheinen ließ.
Alexander wünschte sich in diesem Moment nichts mehr, als die Gefühle seiner Frau teilen zu können, doch so sehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nur teilweise. Das Leben ging genauso weiter wie bisher, und die Menschheit hatte mit der jüngsten Generation noch gute neunzig Jahre Zeit, ein Problem zu beseitigen, dass sich bestimmt in naher Zeit von selbst lösen würde.
Es gab nichts, was ihr gemeinsames Glück trüben konnte, davon war er überzeugt.
Er trat langsam wieder zu ihr hin. Sie lehnte sich an seine Schulter und begann zu schluchzen.
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DONNERSTAG, 14. AUGUST 2025
Man könnte wirklich heulen“, sagte Dieter und legte den Kopf weit in den Nacken, um keinen Tropfen seines dunklen Hefes zu vergeuden. „Scheiße, ich meine, schaut euch doch um, die ganze Welt … für’n Arsch.“ Er setzte sein Glas mit einem lauten Klonk! auf den Tisch und legte seine riesigen, behaarten Hände darum, während er mit verklärtem Blick in die Ferne sah. Alexander, der neben ihm saß, brummte, und für Dieter klang es wahrscheinlich zustimmend. Dieter war der Malermeister im Dorf und hatte ihr Häuschen gestrichen, bevor sie eingezogen waren. Außer ihnen befanden sich noch zwei weitere Männer am Tisch. Zu Alexanders Rechten hockte sein Nachbar Simon, ein schlaksiger Mann von vierundzwanzig Jahren. Seine knabengleiche Statur und seine jungenhaften Gesichtszüge hätten Anlass dazu geben können, ihn noch einige Jahre jünger zu schätzen; seine Halbglatze jedoch ließ ihn wiederum um einiges älter erscheinen, sodass diese beiden Merkmale sich gegenseitig aufwogen und ihn insgesamt genauso alt erscheinen ließen, wie er tatsächlich war. Er trug eine Hornbrille mit großen Gläsern, die ihm ständig die Nase herunterrutschte; sodass er sie sich ungefähr alle fünf Minuten mit dem Zeigefinger wieder nach oben schieben musste. Es war Alexander ein Rätsel, warum Simon nicht einmal die Bügel richten ließ, doch er hatte ihn auch noch nie danach gefragt. Ihm gegenüber hatte ein gewisser Mark Platz genommen, der ein Glas billigen Rotweins vor sich hatte, welchen er in großen Schlücken hinabkippte; er hatte seit Alexanders Ankunft bereits zweimal nachbestellt. Ein Kerl, den er bereits aus seiner Jugend kannte, und mit dem er hier nicht gerechnet hatte. Als er an den Tisch getreten war und seine Visage erblickt hatte, wäre er am liebsten wieder rückwärts hinausgegangen. Doch das ließ sich schlecht anstellen, da Simon und Dieter ihn bereits entdeckt hatten und ihn heiter und lautstark willkommen hießen, weil er bereits mehrere Wochen nicht mehr zum Stammtisch erschienen war. Im Laufe der Gespräche erfuhr er, dass Dieter sich mit Mark angefreundet hatte, was wohl bedeutete, dass er nun regelmäßig mit ihm rechnen musste. Er hatte ihn in den letzten Jahren hin und wieder im Dorf gesehen, aber nie mit ihm gesprochen. Wenn sich ihre Blicke einmal versehentlich begegnet waren, so hatte sich Mark stets verstohlen abgewandt. Und darüber war Alexander auch sehr froh gewesen. Doch heute, in dieser Situation und in Anbetracht der feucht-fröhlichen Stimmung, würde er wohl oder übel ein paar Worte mit ihm wechseln müssen.
Normalerweise zählte ihre Runde mindestens die dreifache Zahl Männer, doch der Rest hatte sich laut Aussage von Simon verspätet, und wiederum zwei waren krank. Ihr Stammtisch fand stets im einzigen Gasthof statt, den das Dorf Niedertalbrück noch hatte: im Goldenen Hahn, der jedoch gar nicht so golden war, wie man vermuten mochte. Die zwei kleineren Bars im Ort, das Crystal’s und The Club, hatte das Jungvolk erobert.
Der Goldene Hahn war an diesem Donnerstag Abend nicht besonders gut besucht. Außer den vieren saßen ein paar vereinzelte Rentnerehepaare in den anderen Ecken der Gaststube. Ein Mann lungerte an der Theke herum. Die Lautsprecher, die in in den Ecken an der Wand hingen, spielten leise Elvis Presley, was Alexander ein wenig seltsam erschien. Gewohnt war jedoch der allgegenwärtige Duft nach Wiener Schnitzel und Spätzle mit dunkler Soße.
Seit dem Tag, an dem Alina ihr Kind zum Geheimnis erklärt hatte, waren gute vier Wochen vergangen. Der Stand der Dinge war noch immer derselbe. Die Wissenschaftler forschten Tag und Nacht. Die Stichprobentests an der Bevölkerung waren bereits durchgeführt worden, mit dem Ergebnis, dass von den rund zehntausend ausgewählten männlichen Probanden hundert Prozent zeugungsunfähig geworden waren (was jedoch noch keinesfalls bedeuten musste, dass dies auf die gesamte männliche Bevölkerung zutraf, wie man immer wieder mit Nachdruck betonte). Es wurde stark vermutet, dass der entdeckte Virus dafür verantwortlich war. Die Frauen waren davon gänzlich unbeschadet geblieben, was nur einen schwachen Trost darstellte.
„War einer von euch bei diesen Untersuchungen?“, fragte Alexander. Alina und er hatten gebetet, dass er nicht zu den Probanden gehören möge, und dieses Gebet war erhört worden.
„Mich haben sie vorgeladen“, entgegnete Simon, der sofort wusste, wovon Alexander sprach, mit seiner hohen Stimme. „Ich sag’s euch, so was hab ich noch nie erlebt. Musste drei Stunden warten, obwohl außer mir nur noch zwei andere da waren. Und die kamen erst nach mir dran.“
„Wer waren die?“, fragte Mark neugierig, und schwenkte sein Glas, um den letzten Schluck des Rotweins zu belüften.
„Nie gesehen, keine Ahnung. Haben mich dann irgendwann abgeholt. Musste zum Doktor, erst untersuchen lassen. Widerlicher Kerl. Dann gab’s eine Röntgenaufnahme. Und zum Schluss halt noch eine Probe.“
„Haben Sie dich auch noch abgemolken, du armer Knilch“, lachte Mark, leerte sein Glas und gab der Kellnerin ein Zeichen, ihm noch eine Karaffe zu bringen.
„War ja zu erwarten.“ Simon fuhr sich mit der Hand über den Schädel. Dann fing er an, mit den Fingern der rechten Hand auf den Tisch zu trommeln.
„Mein Cousin arbeitet bei Durex“, warf Mark ein. Die Kellnerin servierte seinen Wein und bekam als Zeichen der Dankbarkeit einen Klaps auf den Hintern. Sie beschwerte sich nicht darüber, was wohl daran lag, dass sie offenbar aus Polen oder Ungarn stammte und gerade genug Deutsch sprach, um die Bestellungen zu verstehen und die richtigen Getränke zu servieren. „Armer Knilch. Hat sich so hochgearbeitet und jetzt können sie ihre Produktion wohl bald auf Luftballons umstellen. Dann ist immerhin nicht alles verloren.“ Er hob sein Glas empor und legte den Kopf in den Nacken.
„Die Durex-Leute werden schon irgendwo unterkommen.“ Simon verdrehte die Augen. „Aber was ist mit den Hebammen, den Kindergärtnerinnen, den Lehrern?“
„Die Schnullerhersteller“, warf Dieter säuerlich ein. „Die Windelproduzenten. Die Zwiebackbäcker, Herrgott noch eins.“
„Ich lass mich von dieser Sache nicht verrückt machen“, erklärte Alexander und nahm einen Schluck von seiner Whisky-Cola. Es war bereits die zweite an diesem Abend. „Das Ganze ist jetzt seit einem Monat offiziell. Die Wissenschaftler sind an der Sache dran. Und denkt doch mal nach: Wie wahrscheinlich ist es, dass wirklich jeder einzelne Kerl auf dieser Welt mit diesem verfluchten Virus in Kontakt gekommen ist?“
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