Alexander setzte sich neben seine Frau auf die Couch und beobachtete , wie ihre Brust sich langsam hob und senkte. Er lehnte sich zurück und war kurze Zeit später selbst eingenickt.
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EIN HALBES JAHR ZUVOR – FREITAG, 18. JULI 2025
Hätte man dem Buchhalter Alexander Schalk an diesem Morgen die Frage gestellt, ob es einem Kind wohl gut täte, die ersten Monate seines Lebens in einem schalldichten Kellerraum zu verbringen, so hätte er ganz gewiss verneint.
Natürlich war dies eine Frage, über die er noch nie von sich aus nachgedacht hatte; es war eine Frage, mit der sich wohl allgemein die wenigsten frischgebackenen Väter beschäftigen müssen. Als Alexander an diesem Morgen an den Frühstückstisch trat, wo er seine Frau vorfand, die in ihren rosafarbenen Morgenmantel gehüllt war und ihn munter begrüßte; auf dem Tisch ein Körbchen voll frischer Brötchen, gekochte Eier, Butter, und ein Glas ihrer Marmelade, die sie schon seit Jahren leidenschaftlich selbst einkochte; da war ihm natürlich nicht klar, dass genau diese Frage schon sehr bald ihr gemeinsames Leben von Grund auf bestimmen würde.
Er trat an den Tisch und tat, was er wohl schon einige Zeit nicht mehr getan hatte: Er gab ihr einen Guten-Morgen-Kuss. Sie strahlte ihn aus ihren braunen Augen an, sah dann wieder in das bunte Heftchen, das sie aufgeschlagen in einer Hand hielt, und nahm einen großen Schluck aus der Kaffeetasse in ihrer anderen Hand. Er warf einen beiläufigen Blick auf das Cover. Alinas Name stand darauf; darunter der Titel „ Mörderischer Kuss “, und wiederum darunter eine Fotografie, die ein Paar blitzender Augen und blutrote Lippen zeigten, die im Halbdunkel lagen. Er erinnerte sich vage daran, wie sie ihm von der neuen Romanidee erzählt hatte. Eine Frau, die ihren Mann um die Ecke bringt, um mit ihrem neuen Liebhaber nach Las Vegas durchzubrennen – woraufhin sie feststellen muss, dass dieser ein mindestens ebenso kaltblütiger Mörder ist wie sie selbst. Die Idee war ihm nicht sonderlich originell erschienen, aber da Alina ihn so selten vorab in ihre Schreibprojekte einweihte, wollte er diese vertrauliche Geste nicht mit Kritik vergelten. Alina schrieb in ihrer Freizeit Romane für einen Verlag, der ausschließlich Reihen publizierte, die man wohl „Hausfrauenkrimis“ nannte. Sie hatte in dieser Sparte ein heißgeliebtes Hobby entdeckt und bereits zwölf Geschichten veröffentlicht. Alexander hatte einmal begonnen, eine davon zu lesen, allerdings schon nach wenigen Seiten abgebrochen. Dafür hatte er sich entschuldigt, und sie hatte es ihm auch nicht übel genommen; das nahm er zumindest an.
Im Hintergrund lief der kleine Fernseher, der auf einer Konsole aus Birkenholz neben dem Spülbecken stand. Alina hatte ihn eines Tages gekauft und dort aufgestellt, sodass sie nun bereits mit drei Fernsehgeräten ausgestattet waren. Ursprünglich hatte sie im Sinn gehabt, am Frühstückstisch ihre Sitcoms anzuschauen, die schon am frühen Morgen auf den Privatsendern gezeigt wurden, doch Alexander hatte das sehr schnell unterbunden. Er hatte sie vor die Wahl gestellt, entweder, sie würden sich zum Frühstück ein vernünftiges Programm ansehen, oder der Fernseher käme schleunigst wieder zurück in den Karton und hinab in die dunklen Tiefen ihres Kellers. Und so lief nun jeden Morgen am Frühstückstisch das Morgenjournal der Öffentlich-Rechtlichen. Natürlich durfte sie umschalten, sobald er gegangen war; er musste bereits eine Stunde vor ihr das Haus verlassen, um zur Arbeit zu kommen.
Auch heute hatte Alina das Morgenjournal eingeschaltet, das jetzt noch auf kaum hörbarer Lautstärke lief. Doch an diesem Morgen hätte sie seinetwegen sämtliche Folgen von The Big Bang Theory an einem Stück schauen können, ohne dass es ihm gegen den Strich gegangen wäre. Er trat zur Kaffeemaschine, stellte seine Tasse unter, drückte auf den Knopf und ließ seine Gedanken drei Tage zurückschweifen. Am Abend davor hatten seine Frau und er sich in einem knappen, spontanen Gespräch für ein gemeinsames Kind entschieden. Am Tag darauf hatte Alina ihre Pille abgesetzt, und sie hatten sich sofort an die Arbeit gemacht.
Das war es, was ihn in diese Hochstimmung versetzte, die er in diesen frühen Morgenstunden wahrlich nicht kannte, und die wohl auch die kommenden Tage noch andauern würde.
Er nahm sich seinen Kaffee und setzte sich an den Tisch, der aus schwerem Kirschholz gefertigt war. Die eigentümliche Maserung schillerte in den verschiedensten Braun- und Rottönen durch die polierte Oberfläche hindurch. Seine Frau hatte eine Schwäche für den Biedermeier, und dementsprechend sah die gesamte Einrichtung aus. Fast alle Möbel im Haus schienen direkt aus dem späten neunzehnten Jahrhundert zu stammen. Der Küchentisch und die Polsterstühle; die beiden gepolsterten Sofas und die drei Sessel im Wohnzimmer, alle mit denselben aufwendig gestalteten Stickbezügen; das Schlittenbett im Schlafzimmer und der respekteinflößende Nussbaumschrank, sowie der Sekretär in Alinas Bürozimmer. Ebenso fand sich in nahezu jedem Raum eine kleine Kommode oder ein Beistelltischchen aus ebenso schillerndem Holz, und darauf befand sich nicht selten eine kleine Tischuhr mit Marmorsäule, eine vergoldete Lampe mit liebevoll verziertem Webschirm, oder gar eine Anordnung winziger Figuren aus weißem Porzellan. Dieser Stil zog sich jedoch nicht konsequent durch das gesamte Haus; es gab keine entsprechenden Tapeten, und sowohl die Einbauküche als auch das Badezimmer bestanden aus zeitgenössischen Elementen. Das hatte Alexander aber noch nie sonderlich gestört. Er hatte seiner Frau bei der Einrichtung freie Hand gelassen. Es wäre ihm auch schwer gefallen, ihr in dieser Hinsicht Vorschriften zu machen; schließlich hatte sie all diese kostspieligen Sammlerstücke aus eigener Tasche bezahlt.
Alina gähnte herzhaft und streckte sich wie eine Katze. Dabei warf sie ihm ein verschmitztes Grinsen zu, das er über den Rand seiner Tasse hinweg erwiderte. Sie gähnte noch einmal, warf das Heft auf den Tisch und küsste ihren Mann auf die Stirn. „Ich bin mal im Badezimmer“, hauchte sie. Er erriet ohne Schwierigkeiten, was sie dort drinnen vorhatte. „Wenn du nachher noch Zeit hast … kannst du dich ja zu mir reinschleichen.“
Sie kniff ihm liebevoll in die Wange und verließ die Küche. Alexander sah ihr lächelnd nach. Er dachte darüber nach, wie weit es zurücklag, dass sie derlei Zärtlichkeiten ausgetauscht hatten, dass in diesem Haus so etwas wie Liebe in der Luft lag – und er dachte darüber nach, welche erstaunlichen Veränderungen Einzug hielten, seitdem sie beschlossen hatten, eine Familie zu gründen. Natürlich drängte sich im gleichen Moment der Gedanke auf, dass diese Euphorie vergänglich war, dass ein Kind kein Heilmittel darstellte für eine bröckelnde Ehe; er wusste es ja, das waren Luftschlösser, vor denen ihn die unzähligen Eheratgeber und Internetforen gewarnt hatten, die er schon vor Monaten gelegentlich konsultiert hatte … Doch er schob diesen Gedanken einfach beiseite, so wie man einen Kerl beiseite schieben mochte, der einem auf dem Weg zur Supermarktkasse dämlich vor der Nase herumstand.
Er griff sich die Fernbedienung vom Tisch und stellte den Ton lauter.
„ … kommenden Tagen wird die politische Situation im nahen Osten weiterhin angespannt bleiben.“
Bärbel Giesebrecht, die Sprecherin, trug eine weinrote Bluse. Ihr langes, blondes Haar wallte ihr um die Schultern und umrahmte das zierliche Gesicht, aus dem große, schokoladenbraune Augen den Zuschauern ernst entgegenblickten. Alexander fand, dass sie Alina ausgesprochen ähnlich sah. Vielleicht fand er genau deswegen so sehr Gefallen an der Sendung. Sie atmete sehr tief ein und kam dann zur nächsten Meldung.
„Es ist und bleibt ein Rätsel: Der seit einigen Wochen andauernde weltweite Geburtenrückgang beschäftigt die globale Politik wie kein anderes Thema, ohne dass die Wissenschaftler bisher eine Ursache für dieses besorgniserregende Phänomen feststellen konnten.“ Die Dame hatte ihre Stirn in Falten gelegt. Alexander tat es ihr unwillkürlich nach. Er überlegte angestrengt, konnte sich jedoch nicht erinnern, in den letzten Wochen eine derartige Meldung mitbekommen zu haben. War er so in seiner Arbeit gefangen gewesen? Wann hatte er denn das letzte Mal eine Nachrichtensendung angesehen oder gar eine Tageszeitung in die Hand genommen? Es schien eine Ewigkeit zurückzuliegen. Alina jedoch musste auf ihrer Arbeit zwangsläufig davon erfahren haben. Er würde sie bei Gelegenheit fragen. Seine Frau arbeitete vormittags in der Praxis von Dr. Andris, dem einzigen Arzt in Niedertalbrück.
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