„Die europäischen KBEZ, Kommissionen für Bevölkerungsentwicklung und Zukunftsfragen, die seit ihrer Gründung in den jeweiligen Staaten die Verwaltung der Krankenhäuser und Spitäler übernommen haben, sind gestern Abend in Genf zusammengekommen und haben ihre Auswertungen offengelegt, die mit größtmöglicher Sorgfalt vorgenommen wurden. Diesen zufolge wurde in der vergangenen Woche europaweit keine einzige Geburt gemeldet. Die gleichen Meldungen kamen aus anderen Teilen der Erde, und obwohl diese noch nicht offiziell bestätigt wurden, ist davon auszugehen, dass auch außerhalb Europas die Geburtenrate momentan gegen Null gesunken ist.“ Die blonde Dame sah nun wirklich sehr bestürzt aus. Ihre braunen Augen starrten Alexander entgegen wie die eines aufgeschreckten Rehs, das mitten auf der Landstraße von einem herannahenden LKW überrascht wird. Vielleicht hatte sie es selbst versucht, so wie er und Alina, und gelangte nun zu der Einsicht, dass sie sich vielleicht noch einige Zeit länger gedulden musste? Alexander atmete beunruhigt ein und aus. Und wer oder was, zum Teufel, waren diese mysteriösen KBEZ, die anscheinend den Hebammen in den Kreißsälen über die Schulter schauten? Er musste wirklich einiges verpasst haben. Vielleicht war es keine schlechte Idee, sich diese Woche mal wieder Zeit für seinen Stammtisch zu nehmen. Er hatte diese Angewohnheit früher stets für schrecklich stumpf und altmodisch gehalten, aber ehe er sich’s versah, war er ihr selber erlegen.
„Aus diesem Grunde planen die KBEZ europaweit stichprobenartige Fruchtbarkeitstests, um der Ursache auf den Grund zu gehen. Die deutsche KBEZ hat den Antrag auf die Durchführung dieser Tests gestellt, und die Regierung hat ihre Unterstützung bereits zugesichert.“ Es wurde ein Bild der streng blickenden Bundeskanzlerin neben der blonden Nachrichtensprecherin eingeblendet.
„Aus der Bevölkerung wird dann eine repräsentative Zahl von Männern und Frauen im geeigneten Alter ausgewählt. Diese werden durch ein Zufallsverfahren ausgelost und schriftlich dazu aufgefordert, den Fruchtbarkeitstest bei ihrem zuständigen Gynäkologen beziehungsweise Urologen durchführen zu lassen. Bis der Bundestag diese Tests genehmigt, werden aber voraussichtlich noch einige Tage vergehen.“ Alexander schüttelte den Kopf. Er war mit den Gedanken bereits zur Hälfte im Büro, und er wollte über diese Meldung gar nicht weiter nachdenken. Er wollte nicht zu Ende denken, was das für Alina und ihn bedeuten mochte. Als er sah, wie das Gesicht der Bundeskanzlerin einem Strandpanorama wich, wollte er aufspringen und sich auf den Weg machen. Doch dann bemerkte er, dass die Meldung noch nicht zu Ende war. Der Himmel über dem Meer war schmutzig grau, und das Wasser selbst wogte unruhig hin und her. Auf dem Strand waren einige dunkelhäutige Menschen zu sehen, die geschäftig hin und her liefen. In der Ferne sah man die Umrisse von Häusern, die jedoch irgendwie wüst aussahen. „Experten haben nun den Beginn des Geburtenrückgangs rechnerisch zurückdatiert und festgestellt, dass dieser im März vergangenen Jahres eingesetzt haben muss, nur wenige Wochen nachdem ein Meteorit südlich von Indonesien ins Meer gestürzt war und eine Flutwelle auslöste, die mehrere hundert Menschen das Leben kostete.“
Als die Bilder von überfluteten Straßen und von umgeknickten Palmen eingeblendet wurden, von Menschen, die auf Holztüren paddelten und von Rindern, die im Wasser ertranken, erinnerte sich Alexander grob an die Geschehnisse. Das war Anfang des Jahres gewesen.
Die blonde Dame wandte sich nun einem jungen, hageren Mann mit Brille und zerzaustem Haar zu, der auf einer Projektion neben ihr auftauchte. Er stand mit stolzer Miene vor einem gläsernen Gebäude und hielt ein Mikrofon mit dem Emblem des Senders in der Hand. „Unser Kollege Johann Winter live aus Jakarta; Johann, welche Verbindung haben die Experten denn nun genau zwischen der tragischen Katastrophe im Frühling und dem derzeitigen weltweiten Notstand hergestellt?“
Die Verbindung nach Jakarta war anscheinend nicht besonders gut, denn Johann schien die Frage seiner Kollegin erst nach guten zehn Sekunden übermittelt zu bekommen. Die Nachrichtensprecherin faltete die Hände und drückte sie nervös zusammen. Ihre Zunge fuhr zweimal kurz über ihre Unterlippe. „Nun, einige führende Wissenschaftler, Hauptverantwortliche der europäischen KBEZ, aber auch der amerikanischen, sind davon überzeugt, dass ein noch nicht bekanntes Virus für die momentane Situation verantwortlich ist. Dafür spricht ihrer Meinung nach einfach dieser totale Stillstand, in dem wir uns zur Zeit befinden, auch wenn wir erst nach den angekündigten Fruchtbarkeitstests Näheres wissen werden. Jedenfalls hat man in Betracht gezogen, dass ein solches Virus auch von außerhalb unserer Erde stammen könnte, da der Meteoriteneinschlag im indischen Ozean eben zeitlich dazu passt und … ja, man hat beschlossen, vom Meeresgrund einige Proben zu nehmen, um eventuell eine Antwort auf die vielen Fragen zu finden, die sich uns in diesen Tagen stellen.“ Offensichtlich zufrieden mit seiner Ansprache nickte Johann in die Kamera und wurde dann ausgeblendet. Die Dame räusperte sich.
„So ist der derzeitige Stand der Dinge, meine Damen und Herren, und wir können nur hoffen, dass sich bald eine Lösung findet. Die Regierung richtet vorab den dringenden Appell an alle Bürgerinnen in Deutschland: Falls Sie entgegen den vorliegenden Daten in den vergangenen Monaten die Empfängnis hatten und sich somit nun in Schwangerschaft befinden, melden Sie sich bitte umgehend unter folgender Rufnummer …“ Eine lange Telefonnummer in geradezu übertrieben großen, weißen Lettern erschien und füllte für mehrere Sekunden den gesamten Bildschirm aus. „Dasselbe gilt, wenn Sie lediglich den Verdacht haben, dass dies auf Sie zutreffen könnte. Die Regierung dankt Ihnen für Ihre Kooperation.“ Sie starrte für einige Sekunden angestrengt auf den Teleprompter, so als erwartete sie eine weitere Meldung, doch dann fuhr sie fort: „Sobald neue Erkenntnisse vorliegen, erfahren Sie es natürlich zuerst hier bei uns.“
Alexander schaltete den Fernseher aus. Er hatte genug gesehen.
Das war keine alltägliche Mord-und-Totschlag-und-Krieg-mit-Flüchtlingsströmen-Meldung, die einen nur so lange beschäftigte, bis die Nachrichtensendung wieder vorbei war. Alexander grübelte nach einem passenden Adjektiv, um sie zu beschreiben. Er entschied sich für das Wort einschlägig . Dieser Tag hatte mit einer einschlägigen Nachrichtenmeldung begonnen.
Er war zu früh dran und hatte noch nichts gegessen, doch das war ihm egal. Kurz entschlossen schnappte er sich seine Aktentasche, verließ die Küche, trat auf den Flur und rief, mehr aus einer spontanen Idee heraus, in Richtung Badezimmer: „Schatz! Hast du das ge...“ Halt um Gottes Willen deine Klappe , unterbrach er sich selbst im Stillen. Er blinzelte heftig und lauschte auf eine Antwort. Wenn sie von dieser Sache erfährt, wird sie am Boden zerstört sein.
Wenige Sekunden später sah er Alinas Umrisse hinter der gläsernen Badezimmertür. Langsam öffnete sie die Tür, steckte den Kopf durch den Spalt und lächelte ihn an, dann trat sie einen Schritt auf den Flur hinaus. „Was ist denn, mein Schatz?“
Und der Haussegen wird genauso schief hängen wie zuvor .
In ihrer rechten Hand lag etwas, das im ersten Moment wie ein Fieberthermometer aussah, und Alexander identifizierte dieses Etwas mit geübtem Blick als einen Schwangerschaftstest. Sie hielt ihn so, dass er die blauen Linien auf der Vorderseite nicht sehen konnte (und selbst wenn er sie gesehen hätte, wäre ihm ihre Bedeutung sehr wahrscheinlich ein Geheimnis geblieben). Alina sah ihn mit leuchtenden Augen an.
„Ich wollte dir nur sagen, ich gehe jetzt“, antwortete er etwas atemlos. „Bin spät dran.“
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