Alexander setzte sich mit seiner Kaffeetasse auf seinen Platz zurück, nahm einen schnellen Schluck und verbrannte sich prompt den Mund. Fluchend knallte er die Tasse auf den Tisch, sodass der Kaffee über den Rand schnappte. Er hustete und sagte: „Da spricht die Schriftstellerin aus dir, Alina.“
Er erntete einen bösen Blick.
„Wir beide, das einzige Paar auf dem Erdball, von dem der Fortbestand der Menschheit abhängt. Unser ganzes Leben die einzige Mission, eine neue Erdengeneration zu zeugen. Das klingt doch etwas zu fantastisch. Ich bin mir sicher, wird sind nicht die Einzigen. In den nächsten Tagen werden sie berichten, dass der Spuk vorbei ist, dass wieder nach und nach überall auf der Welt Frauen schwanger werden, dass es sich nur um eine vorübergehende Anomalie gehandelt hat. Glaub mir.“
Er führte seine Tasse erneut zum Mund und schlürfte vorsichtig.
„So könnte es sein“, flüsterte sie. „Ich hoffe es; ich bete, dass du recht hast. Aber falls nicht, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder, ich bin auf diesem Planeten zur Zeit die einzig fruchtbare Frau. Oder aber, du bist der einzig zeugungsfähige Mann.“
Alexander starrte auf die winzige Mattscheibe neben dem Spülbecken. Der Ton war fast ganz herunter geregelt. Es wurde gerade ein Werbespot über ein Arzneimittel gegen Reizhusten und Gliederschmerzen gezeigt, und dieser dauerte genauso lange, wie Alexander brauchte, um die Worte seiner Frau zu verarbeiten. Natürlich hatte er diese Schlussfolgerung in den vergangenen vierundzwanzig Stunden bereits selbst angestellt. Doch er hatte sie stets mit einem ungläubigen Lächeln, begleitet von einem leichten Kopfschütteln oder gar einem ungeduldigen Abwinken, als absurd verworfen. Nun sprach seine Frau eben diese Schlussfolgerung laut aus, und das in einem derart ernsten und bedeutungsschwangeren Ton, dass sie ihm beinahe als eine unausweichliche Tatsache erschien. „Keiner kann voraussagen, wie lange es noch so bleibt.“
„Und deshalb musst du mir versprechen, es vorerst niemandem zu erzählen.“
Er schwieg für ein paar Sekunden. „Nun gut.“
„Auch in der Firma nicht.“
„Ja.“
„Oder am Stammtisch.“
„Ich sagte doch bereits, einverstanden!“ Er sah sie scharf an und überlegte sich, wie er sie beruhigen konnte.
Es schien ihm unbegreiflich, warum dies alles so plötzlich kam. Er hatte nichts von alldem mitbekommen. Hätte das Ganze nicht mit einer Meldung über einen sprunghaften Rückgang der weltweiten Schwangerschaften beginnen müssen? Eine Meldung, die ja dann bereits spätestens ein dreiviertel Jahr zuvor hätte öffentlich werden müssen? Er war sich ziemlich sicher, dass hierüber ebenso Statistiken geführt wurden, wie über die Entbindungen. Hätte diese Meldung nicht die erste Welle der Bestürzung auslösen müssen, gefolgt von weiteren Meldungen über eine immer weiter zurückgehende Geburtenrate, welche ja die logische Folge gewesen wäre?
Er meinte, vor etwas mehr als einem Monat eine kleine Meldung vernommen zu haben. Doch dann hatte man nichts mehr gehört, bis schließlich am vergangenen Morgen plötzlich der Notstand ausgerufen worden war. Denn auch bei ihm im Büro hatte anscheinend niemand mit dieser Entwicklung ernsthaft gerechnet, und er wusste, dass unter seinen Kollegen einige waren, die es mit dem Lesen der Tageszeitungen peinlichst genau nahmen, um in der Mittagspause angeregte Diskussionen über die belanglosesten Themen veranstalten zu können. Einige prahlten sogar gelegentlich mit ihren Zeitungs- und News-Apps, die sie rund um die Uhr haut- und zeitnah am Weltgeschehen teilhaben ließen und zu verstehen gaben, wie sehr ihre Anwender mit dem Zahn der Zeit gingen.
Alina holte tief Luft und sagte: „Dieses Virus, oder was auch immer da entdeckt wurde … Ob man dagegen überhaupt was unternehmen kann? Ich meine … die Menschen werden sich eine Zeit lang einreden, dass sie bestimmt irgendwann eine Lösung finden. Die Regierungen werden Geld in die Forschung stecken und die Wissenschaftler werden sich für jede vermeintliche Erkenntnis hochleben lassen. Aber irgendwann werden die Leute es mit der Angst zu tun bekommen.“
Sie sah hinaus aus dem Fenster. Ihr Blick wirkte angestrengt. Alexander hätte sich gerne umgedreht um zu prüfen, ob es dort etwas Interessantes zu sehen gab. Schließlich stand er auf und ging neben seiner Frau in die Hocke, wobei er ihre Hand nahm und sie zärtlich küsste. „Schatz, solange die medizinischen Untersuchungen noch nicht begonnen haben, kann man gar nichts darüber sagen, ob dieser Virus etwas mit der ganzen Sache zu tun hat. Und das hat auch dieser Biologenfritze von vorhin ganz ausdrücklich betont. Nächste Woche verschicken sie diese Schreiben von der Regierung, und falls wir unter diesen zufällig ausgewählten armen Idioten sein sollten, wird der Wisch einfach direkt in den Reißwolf wandern, weil ich auf diese Sache so ziemlich gar keine Lust habe, verstehst du? Alles Panikmache.“
Sie sah ihn an und küsste ihn auf die Stirn, dann nahm sie einen Schluck aus ihrem Wasserglas und hustete heftig. Alexander klopfte ihr kräftig auf den Rücken und nahm sie dann in den Arm. Alina atmete kurz durch, dann befreite sie sich aus seiner Umarmung. „Ich weiß, dass du mich für hysterisch und meine Sorgen für maßlos übertrieben hältst.“
„Das ist …“
„Und jetzt wirst du so etwas sagen wie ‚Aber nein Schatz, das stimmt nicht, ich weiß, wie du dich fühlst‘, nur damit du nicht zugeben musst, was ich dir gerade vorgeworfen habe.“
Alexander stand auf und setzte sich an seinen Platz zurück. Er aß den Rest von seinem Frühstücksei und sagte schließlich: „Im Moment finde ich das tatsächlich übertrieben, da hast du recht. Ich weiß nicht, warum du in einer so … apokalyptischen Stimmung bist. Aber ich hab überhaupt kein Problem damit, wenn erst mal niemand davon erfährt, denn schließlich bist du nicht schwanger geworden, damit wir überall damit angeben und den Leuten ein Ohr abquatschen können, nicht wahr? Aber ich denke trotzdem, dass du deine Bedenken früher oder später beilegen solltest, denn spätestens in einem halben Jahr werden die Leute von ganz allein auf den Trichter kommen, selbst wenn wir schweigen wie die Massengräber und so tun, als ob du neuerdings immer ein Kissen unter der Bluse trägst.“
Er stand auf und trat ans Fenster. Von hier aus konnte man direkt auf die Straße sehen. Draußen war keine Menschenseele unterwegs. Die Nachbarn auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatten ein Trampolin in ihrem Vorgarten aufgestellt, auf dem zwei Kinder im Grundschulalter vergnügt auf- und abhüpften. Alexander betrachtete sie eine Weile, dann drehte er sich wieder um und sah, dass Alinas Augen glänzten. Einen Augenblick später rollte eine Träne ihre rechte Wange hinunter und blieb an ihrem Kinn hängen.
„Weißt du was“, wisperte sie mit brüchiger Stimme und wischte die Träne mit dem Handgelenk fort, „ich war so glücklich … die letzten vierundzwanzig Stunden lang hab ich mich gefühlt, als müsste ich platzen vor Glück. Aber jetzt wünschte ich, es wäre besser nicht passiert. Weil wir es uns ganz anders vorgestellt hatten. Ich zumindest. So ist es ein schreckliches Gefühl.“ Eine zweite Träne folgte der ersten.
Auch er dachte für einen Moment zurück. An die Gefühle, die ihre Pläne über die Operation Nachwuchs in ihm ausgelöst hatte. Aber direkt vor diesen überwältigenden Gefühlen war etwas anderes gewesen; etwas Dunkles, Bedrohliches. Er erinnerte sich, wie Alina das Gespräch begonnen hatte, wie sie beide im Schlafzimmer umhergetrottet waren und sich bettfertig machten. Sie hatte es mit dem Satz ‚Alex, ich muss mit dir über etwas sprechen‘ begonnen. Und er konnte nicht leugnen, dass er in diesem Moment an alles andere gedacht hatte, als an Nachwuchs. Mit einem Schlag traf ihn die Gewissheit, dass ein solcher Satz nur zwei mögliche Szenarien einleiten konnte. Die erste Möglichkeit war, sie wollte sich von ihm trennen. Die zweite Möglichkeit war, sie hatte ihn betrogen. Und natürlich gab es noch eine dritte Möglichkeit: dass sowohl das eine als auch das andere der Fall war.
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