„Schalk Alexander“, brummte der Mann in einem Tonfall, der unklar ließ, ob es sich um eine Frage oder eine Feststellung handelte, und machte ein Kreuz in der Liste auf seinem Klemmbrett. „Ich muss Sie bitten, sich zu entkleiden, und zwar vollständig, Ihre Kleidung lassen Sie bitte hier auf dem Schemel zurück. In zwei Minuten bin ich wieder da.“ Der Mann verschwand blitzschnell und ließ die Tür hinter sich zufallen.
Er musste lächeln. Alina hatte mal wieder recht gehabt. Sie war sicher gewesen, er würde sich komplett ausziehen müssen; er hingegen hatte vermutet, man würde ihn mitsamt seiner Kleidung in einen abgeschiedenen Raum stecken und dort sich selbst überlassen. Weder Harald noch seine Stammtischkollegen hatten ihm darüber Auskunft geben können, denn sie alle hatten einen späteren Termin zugewiesen bekommen. Punkt für dich, Alina , dachte er. Dann hättest du mir ja auch gleich einen Vorschlag machen können, wo ich diese verfluchte Kapsel verstecken soll, ohne dass der Typ was mitbekommt.
Er riss den Vorhang beiseite. Was er sah, unterschied sich tatsächlich nicht von einer gewöhnlichen Umkleidekabine. Die Wand war jedoch nicht mit Spiegeln verkleidet. Sollte er die Kapsel mit Tesafilm unter der Sitzfläche befestigen, in der Hoffnung, dass sein Wärter, oder wie auch immer er den namenlosen Angestellten, der ihn empfangen hatte, nennen sollte, nicht entdecken würde?
Das wäre zwar riskant gewesen, aber er hätte es getan … wenn er daran gedacht hätte, so etwas Profanes wie Tesafilm in die Praxis mitzubringen.
Auch sonst sah er keinen Spalt, keinen Schlitz und kein Loch, das ein geeignetes Versteck bieten konnte; die Metallstreben verliefen an einem Stück vom Boden bis zur Decke.
Er begann sich auszuziehen und spürte, wie er unruhig wurde. Er brauchte einen Einfall. Was würde passieren, wenn er den Wärter bewusstlos schlug und die Praxis einfach verließ?
Du bist ja so was von gerissen … und so einfallsreich noch dazu , schalt er sich selbst im Stillen und streifte die Hose seines schicken Hugo-Boss-Businessanzugs ab, den er im Büro immer am liebsten trug, denn er hatte vorgehabt, nach seinem Besuch beim Urologen sofort zur Arbeit zu gehen. Nun stand er, nur noch in Unterhose bekleidet, in dem engen Kämmerchen, das zwar gut beheizt war, ihm aber wie eine Gefängniszelle erschien, hielt seine Hose an einem Bein zwischen den Händen und blickte ziemlich ratlos drein. Er griff nach der Kapsel, holte sie hervor und sah sie nachdenklich an. Sie war recht groß für eine gewöhnliche Pille und bestand aus ultradünnem, weißen Plastik. Wahrscheinlich hatte sie eines der Medikamente enthalten, die sein Bruder regelmäßig nehmen musste. Sollte er sie sich rektal einführen? Was, wenn sie wieder herausfiel, solange der Wärter noch im Raum war, oder noch schlimmer, wenn sie kaputt ginge? Dann wäre die ganze Sache im wahrsten Sinne des Wortes im Arsch.
Da hörte er, wie die Tür zum Sprechzimmer aufgerissen wurde, hastige Schritte.
Ohne eine Sekunde länger nachzudenken, öffnete er den Mund und ließ die Kapsel unter seiner Zunge verschwinden.
Die Tür öffnete sich, der dünne Mann mit der Liste trat eilig herein, ließ die Tür wieder zufallen und betrachtete Alexander missbilligend. „Unterhose und Schuhe auch, mein Herr. Ich sagte doch, alles.“
„Okay“, brachte Alexander vorsichtig hervor. Mehr wagte er nicht zu sprechen.
Hastig streifte er Schuhe, Socken und Unterhose ab. Jedes einzelne Stück ein Markenartikel. Alexander hatte eine Schwäche für exklusive Kleidung, das war schon immer so gewesen.
Du hast gerade das Sperma deines Bruders im Mund , schoss es ihm durch den Kopf, und der Gedanke an sich erschien ihm so skurril, dass er für einen Moment Gefahr lief, in einen Lachanfall auszubrechen. Nur ein Zehntel Millimeter Plastik trennen deine Schleimhäute von Haralds Saft, mit dem er weiß Gott wie viele Mädchen in seiner Zeit am Gymnasium und an der Universität besudelt hat.
Er wusste nicht, welcher Gedanke ihm einen größeren Schrecken versetzte: die zu erwartenden Folgen, wenn sein Wärter die Kapsel entdeckte, oder die Vorstellung, die Kapsel könnte sich in seinem Mund öffnen. Alexander versuchte, sein Gehirn in Ruhezustand zu versetzen, aber er versagte kläglich dabei.
Der junge Mann streckte ihm eine Zeitschrift entgegen, die er von irgendwo hervorgezaubert hatte. Es war eine Ausgabe des Playboy, die nach dem Datum zu urteilen jedoch schon einige Jahre alt war und recht eselsohrig und zerfleddert aussah. „Das lege ich Ihnen in die Kabine. Sie sind doch heterosexuell?“
„Ähm … ja, das bin ich.“
„Prima. Ich werde sie dann allein lassen. Bedenken Sie, Sie haben Zeit, aber es wäre mir recht, Sie würden das zügig erledigen, denn Sie haben ja sicher selbst gesehen, es werden nicht weniger Leute da draußen im Wartezimmer. Ich warte nebenan im Sprechzimmer, und Sie melden sich, wenn Sie fertig sind. Zeigen Sie mir aber bitte vorher noch ihre Hände.“ Alexander streckte sie ihm entgegen. Der Mann betrachtete sie kaum, ging dann einmal im Kreis um ihn herum, warf einen kurzen Blick in die Kabine und meinte dann: „Also, dann mal rein mit ihnen.“ Er drückte ihm einen weißen Plastikbecher in die Hand. „Bis später.“ Er griff sich Alexanders Kleidung und Schuhe.
„Okay“, sagte Alexander erneut, dann verließ der Mann mit Alexanders Sachen in den Händen das Zimmer.
Er betrat die Kabine, atmete tief durch, schloss den Vorhang hinter sich und legte den Becher und die Zeitschrift auf die Sitzfläche, dann ließ er sich ebenfalls darauf nieder. Das Hartplastik fühlte sich kalt auf seiner nackten Haut an. Er malte sich aus, wie viele Männer hier wohl heute schon gesessen haben mussten. Vorsichtig fingerte er die Kapsel aus seinem Mund.
Wie viel Zeit sollte er sich lassen? Er wusste es nicht, aber dann entschied er, dass fünf Minuten eine unauffällige Zeit waren; also würde er hier drin sitzen, bis er glaubte, dass fünf Minuten verstrichen waren, da er keine Armbanduhr besaß. Nachdenklich betrachtete er das Heft und blätterte darin, mehr aus Langeweile denn aus echtem Interesse. Nach einigen Sekunden legte er es wieder zurück.
Warum hatte Gott, die Natur, oder eine andere geheime Kraft, es so eingerichtet, dass das Leben bei einem Akt entstand, der doch mit so viel Schmutzigem und Niedrigem in Verbindung stand? Wie konnte etwas so Wunderbares, so Heiliges wie das Leben eines Kindes zustande kommen, bei einem Akt, der gleichzeitig von stöhnenden Frauen in den Dauerwerbesendungen der Privatsender ab Mitternacht beworben wurde, mit dem brutale Zuhälter weltweit ihr schmutziges Geschäft machten, das Vergewaltiger ins Gefängnis brachte und ihre Opfer in die Psychiatrie? Es war eine Frage, die er sich seit dem Aufklärungsunterricht in der Schule gestellt und bis heute nicht beantwortet hatte. Warum konnten Frauen nicht durch einen Kuss schwanger werden? Warum konnten sie nicht durchs Zähneputzen schwanger werden, durchs Kochen, oder ganz einfach von selbst?
Und was, zum Teufel, sollte es ihm in dieser Situation eigentlich bringen, über derlei Fragen nachzugrübeln?
Eine Zeit lang saß er einfach nur da und starrte auf den roten Samt des Kabinenvorhangs.
Er wartete noch eine gefühlte Minute, dann brach er die Kapsel und goss ihren Inhalt in den Plastikbecher. Er stellte sich intensiv vor, dass es sich dabei nur um wässriges Mehl oder Handseife oder um etwas anderes Unverfängliches handelte, als er das Geräusch hörte, mit dem die Flüssigkeit auf dem Boden des Bechers aufschlug. Er wollte hier raus. Er wollte nach Hause zu seiner Frau, sie in den Arm nehmen und nicht mehr loslassen.
Alexander öffnete die Kabine und trat zur Tür. Die leere Kapsel hielt er in der linken Hand verborgen; um nichts in der Welt hätte er sie zurück in den Mund gesteckt. Er öffnete die Tür einen Spalt und rief: „Ich bin fertig!“
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