Er sah Alexander an, als hätte dieser gerade irgendeinen albernen Zaubertrick vermasselt. Dieser glaubte zuerst, sich verhört zu haben. Vielleicht hatte er sich auch undeutlich ausgedrückt?
„Ähm … wie jetzt?“, hörte er sich fragen, und dann war er es, der sich verschluckte. Harald klopfte ihm mit einer fürsorglichen Geste auf den Rücken. „Na, Alina hat’s mir doch schon vor ein paar Wochen erzählt. Sie war ziemlich besorgt, kann ich ja auch gut verstehen, ist ’ne verdammt komplizierte Sache. Aber das hast du doch sicher gewusst, oder? Na ja, vielleicht ist es dir entgangen, wär ja kein Wunder bei dem Stress, den ihr beide grad haben müsst, aber schadet ja nichts, wenn ich schon vorab informiert bin, und natürlich hab ich auch keiner Menschenseele was davon erzählt.“
Alexander spürte, wie etwas in ihm zu zittern begann; es war ein Zittern, das er von einem gewissen Abend in einer Bar namens Crystal’s kannte; ein Zittern, das er inzwischen zu beherrschen gelernt hatte, indem er sich vorstellte, wie er sich selbst in eine eiserne Rüstung zwängte, die in einem Gefrierschrank gelagert worden war. Er stellte sich vor, wie er in Dunkelheit getaucht wurde, wie das eiskalte Metall sich um seine Haut legte und jedes Gefühl sofort absterben ließ. Das funktionierte. Das war die patentierte Alexander-Schalk-Selbstregulation.
Okay , dachte er. Du hast keine andere Möglichkeit gesehen, du hast dich von mir so allein gelassen gefühlt, dass du dich bei meinem Bruder ausheulen musstest. Fotze. Mag sein, dass du das brauchtest, weil ich mich erst viel später entschlossen habe, zu dir zu stehen – aber der Teufel soll mich holen, wenn du mir das erzählt hast und ich es einfach vergessen habe. Er lachte das unverfänglichste Lachen, das er zustande brachte, und setzte eine überraschte Miene auf. „Na gut, das muss ich wohl tatsächlich nicht mitgekriegt haben. Herrje, und jetzt hätte ich mich gerade so schön wichtig machen und eine richtige Bombe platzen lassen können. Da hat mein Schätzchen mir aber einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht, was?“ Er legte seine Hand auf die ihre und drückte sie. Etwas fester, als unbedingt nötig. Diese lächelte ihn an, während aus ihren Augen Zweifel und Unbehagen sprachen. „Spaß beiseite, das spart wirklich viele Worte, wenn du bereits Bescheid weißt. Worum es uns geht, ist Folgendes: Die Samenbanken sollen bald geöffnet werden, wie du sicher mitgekriegt hast. Die Frauen dürfen bereits aufs Rathaus gehen und ein Samenpräparat beantragen. Wir gingen gestern am Rathaus vorbei, und die Schlange vor der Tür war enorm.“
„Ja, habe ich auch gesehen, als ich in der Stadt war. Schien so, als hätten sich alle Frauen aus dem Dorf samt und sonders dort verabredet.“
„Aber die Regierung hat jetzt im Gegenzug eine neue Reihe von Tests angekündigt, und zwar wird in Kürze jeder einzelne Kerl in Deutschland auf seine Zeugungsfähigkeit getestet, und du kannst dir denken, wo da mein Problem liegt.“
„Hab es in den Nachrichten gesehen. Hab so ziemlich alles mitverfolgt.“ Der bärtige Mann hatte seine gefalteten Hände in den Schoß gelegt und blickte nachdenklich drein. „Wenn ich so drüber nachdenke, Bruder … gebührt dir mein Respekt. Ist ja nicht so, dass es irgendein … Verdienst oder etwas in der Art wäre, aber es flößt einem doch eine gewisse Achtung ein, wenn man bedenkt, wie erbärmlich es um alle anderen Kerle auf der verdammten Welt bestellt ist, man selbst eingeschlossen.“
Alexander konnte nicht umhin, ihm ein Lächeln zu schenken, das dieser jedoch gar nicht sah, da er versonnen ins Leere blickte. „Das weißt du ja nicht. Vielleicht stellt sich bei deinem Test etwas anderes heraus.“
„Klingt nach Spaß“, sagte Harald und lachte heiser, während er sich eine neue Tasse Kaffee eingoss.
„Ich soll dir also ein Päckchen Mayonnaise leihen, sozusagen, weil du glaubst, dass du sie so überlisten kannst.“
Wenn Alina nicht dabei gewesen wäre, hätte er sich gewiss nicht um diese alberne Metapher bemüht, dessen war Alexander sicher. Harald konnte recht derb werden, wenn ihm der Sinn danach stand.
„Ich bin mir sicher. Man wird diese Proben wahrscheinlich kaum zu Hause nehmen und einschicken können oder so, wahrscheinlich wird man nicht drum herum kommen, zum Arzt zu gehen, aber ich kann es mir nur so vorstellen, dass dort jeder eine Einzelkabine haben wird, wo er sein Werk in Ruhe vollenden kann. Alles andere … na ja, so desolat ist die derzeitige Situation nun auch wieder nicht. Jedenfalls würde es niemand mitbekommen, wenn ich die Proben vertausche. Weißt du … wir haben sonst niemanden, den wir um so was bitten könnten.“ Er lachte, und es klang auf eine irrsinnige Art verlegen. Nicht einmal in seinen verrücktesten Träumen hätte er sich vorstellen können, seinen Bruder um so etwas zu bitten. Auf einmal war er nicht mehr sauer auf Alina. Nein, es war eigentlich eine gute Idee, ihn vorab darauf einzustimmen, ihn welchem Schlamassel sie steckten, und es war allemal besser, wenn sie mit ihm darüber sprach, als wenn sie womöglich mit ihren Arbeitskolleginnen plauderte oder mit der Frau ihres Chefs, Sarah Andris, die alle Personen im Dorf, bis hin zu ihrer Schuh- und Körbchengröße, auswendig zu kennen schien. Wohl wahr. Alles in allem ein kluger Schachzug. Er schämte sich, dass er für einen Moment einen solchen Groll gegen sie gehegt hatte. Schach? Hat hier jemand was von Schach gesagt? , quakte plötzlich eine Stimme in seinem Kopf, und er kam sich albern vor.
„Ich würde dich normalerweise zum Teufel jagen, Alex, das würde ich wirklich“, lachte sein Bruder, „aber ich glaube, in diesem Fall kannst du mich um etwas derart Verrücktes bitten.“
„Es würde mir ein große Last abnehmen. Uns beiden.“
„Sagt mir einfach rechtzeitig Bescheid, dann mach ich mich an die Arbeit.“
„Danke.“ Alexander lief ein Schauer über den Rücken.
Eine Zeit lang sagte niemand etwas. Nur das Klappern der Löffel in den Tassen war zu hören, sowie das Kratzen der Gabeln auf den Kuchentellern. Dann Harald, der auf eine angestrengte, greisenhafte Art Luft holte.
„Wenn ihr meine Meinung hören wollt: Beendet die Sache, solange noch niemand davon weiß.“
Wieder Stille. Alexander legte seine Gabel nieder und sah ihn mit zusammengekniffenen Augenbrauen an.
„Mir ist klar, dass ihr das nicht hören wollt, denn ich kann mir vorstellen, wie glücklich ihr trotz aller Umstände sein müsst, aber ganz ehrlich gesagt … Mir ist schleierhaft, wie das auf die Dauer funktionieren soll.“
„Harald“, sagte Alexander mit fester Stimme, „bevor du weitersprichst: Wir sind nicht gekommen, um dich um Rat zu fragen. Du willst uns helfen, und das finde ich großartig von dir, aber …“
„Es gibt Kinderheime, und ihr könnt euch ein Pflegekind nehmen und es adoptieren, das ist fast dasselbe und in jeder Hinsicht besser für euch und das Kind, denn ihr habt ja mitgekriegt, was sie mit diesem armen Kerl in Bonn angestellt haben. Wie stellst du dir das vor, Alex, erklär mir das mal?“ Seine Stimme war lauter geworden. Er hatte die Beine übereinander geschlagen und seine rechte Hand zu einer resoluten Geste erhoben, wie ein Politiker in einer Talkshow, der gerade sein Parteiprogramm erläutert. Alexander hasste es, wenn sein Bruder sich so aufführte. Das hatte er seit jeher getan, schon in seiner Jugend, wenn Mutter nicht zuhause gewesen war und sie ihn gebeten hatte, auf seinen kleinen Bruder aufzupassen. Er ließ keine Gelegenheit aus, sich als Ersatzvater aufzuspielen. Alexander nahm an, dass auch dies einer der Gründe war, warum er es bisher liebend gern Alina überlassen hatte, regelmäßig bei ihm vorbeizutelefonieren. Davor hatte er ihn vielleicht einmal jährlich besucht, und dies auch nur aus reinem Pflichtgefühl. „Harald, bitte …“, sagte Alina mit schwacher Stimme, doch er schien sie zu ignorieren.
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