„Wie wollt ihr die Schwangerschaft vor den Leuten geheim halten, und wo soll Alina das Kind auf die Welt bringen? Wo soll es aufwachsen, im Keller vielleicht? Alex, du musst doch zugeben, das könnt ihr vergessen. Ich hab es deiner Frau bereits mehrfach erklärt, aber sie scheint doch zu blauäugig zu sein, um der Realität ins Auge zu sehen.“ Das Zittern. Erneut brach es tief aus dem Inneren hervor und erfasste Alexander in einer gewaltigen Woge, sodass er sich selbst für einen Moment die Beherrschung verlieren und seine Faust im Gesicht seines kluge Reden haltenden Bruders platzieren sah. Es war wieder Zeit, die tiefgefrorene Rüstung anzulegen. „Aber wenigstens du solltest zur Vernunft kommen. Du weißt selbst, dass ich recht habe.“
„Nein, das hast du nicht“, sagte Alexander und sah den Mann am Tisch mit dem kältesten Blick an, den er zustande bringen konnte. Für einen Moment schien es in der Wohnung noch eisiger zu sein als in jener Februarnacht, in der er einen angetrunkenen, unglücklich verliebten Jüngling im Hinterhof des Crystal’s verprügelt hatte. „Es ist eine Übergangslösung. Wir sind optimistisch, dass sich die Situation wieder normalisiert.“
Er machte eine Pause und blickte Harald noch durchdringender an.
„Und selbst wenn das nicht der Fall sein wird, egal was passieren mag, was du da redest, das ist keine Option für uns. Du würdest das vielleicht übers Herz bringen. Ich nicht.“
„Das Problem wird sich nicht von selbst lösen. Du musst handeln, Alex.“
„Nein, dass muss ich nicht. Mag sein, dass es in deinen Augen so aussieht. Für uns ist es ein Geschenk, und kein Problem, das einer Lösung bedarf. Alina und ich haben uns dafür entschieden und ziehen die Sache gemeinsam durch.“ Er nahm ihre Hand und drückte sie sanft, während er Harald mit seinem Blick durchbohrte. „Ich will von dir nie wieder etwas in dieser Art hören. Eine Abtreibung kommt nicht in Frage.“
Sein Bruder wandte den Blick ab und ließ die Hände in den Schoß sinken. Mit leicht verdrossener Miene schaute er über den Kaffeetisch, als ob ihm gerade eingefallen wäre, dass es höchste Zeit war, sich einen neuen zu kaufen. „Nun gut.“
Eine unbestimmte Zeit lang herrschte Stille. Vielleicht waren es zwei Minuten, vielleicht auch fünf; vielleicht eine halbe Stunde.
„Wir gehen jetzt“, sagte Alexander schließlich und stand auf, während er Alinas Hand in seiner hielt. Beide hatten sie ihren Kuchen kaum angerührt, am Kaffee lediglich genippt. Sie lächelte ihm zu und stand dann ebenfalls auf. In ihren Augen standen Tränen. Hatte er sie mit seiner harten Ansage derart gerührt?
„In Ordnung“, sagte Harald mit ausdrucksloser Miene und setzte sich in Richtung Flur in Bewegung. Alexander und Alina gingen ihm nach. Als er die Wohnungstür für sie öffnete, sagte er: „Ich wollte es nur erwähnt haben. Schließlich seid ihr mir nicht egal, wisst ihr. Ich mein es nur gut mit euch.“
Alexander trat an ihm vorbei auf die Schwelle. Alina folgte ihm. Er wandte sich zu ihm um und schenkte ihm ein kaltes Lächeln. „Das ist nett. Aber eigentlich geht es dich nichts an. Es ist nicht dein Kind, weißt du?“
„Sicher, da hast du recht“, sagte Harald leise und schloss langsam die Tür.
-8-
DONNERSTAG, 27. NOVEMBER 2025
Eklampsie – das seltene Worst-Case-Szenario:
Die bereits zuvor beschriebenen Symptome (Übelkeit, Kopfschmerzen, Augenflimmern, womöglich ein rasanter Anstieg des Blutdrucks) können möglicherweise auch die Vorboten einer Eklampsie darstellen.
Hierbei handelt es sich um die kritischste Form der bereits zuvor beschriebenen Gestose (Bluthochdruck bei Schwangerschaft) und um eine Entwicklung der Präeklampsie. In diesem seltenen Fall treten bei der werdenden Mutter krampfartige Anfälle und Muskelzuckungen auf. Die sofortige Konsultation eines Arztes ist unerlässlich; in der Regel wird die Ausweitung der Erkrankung durch die Einleitung der Geburt (oftmals via Kaiserschnitt) beendet. Ohne medizinische Behandlung kann eine Eklampsie im weiteren Verlauf für Mutter und Kind lebensbedrohlich werden. Bei der werdenden Mutter können aufgrund der gestörten Durchblutung schwere Organschäden auftreten, während der Säugling …
„Herr Alexander Schalk?“
Alexander saß auf der abgewetzten Couch im Wartezimmer des Urologen im Nachbardörfchen Langenhofen und hatte sich in eine der zahlreichen medizinischen Broschüren vertieft, die auf dem großen Glastisch in der Zimmermitte zur Unterhaltung, Zerstreuung (und scheinbar auch zur Beunruhigung) der wartenden Patienten dargeboten wurden. Erst nach ein paar Sekunden identifizierte er den ausgerufenen Namen als seinen eigenen und schreckte auf. Er blickte in ein Dutzend müder Männergesichter, von alt bis jung, die an diesem Vormittag ebenfalls in die Praxis vorgeladen worden waren. Dann sah er die Dame im Türrahmen, eine Sprechstundenhilfe mit blondem Kurzhaarschnitt, lächelte schwach und erhob sich mit einem angestrengten Ruck von der Couch. „Kommen Sie, Herr Schalk.“
„Schon unterwegs.“ Er klappte die Broschüre zu und ließ sie auf den Glastisch zwischen all die anderen Traktate fallen. Vom Titelblatt strahlten ihm die erwartungsvollen Augen einer jungen, blonden Frau entgegen, die ihre Hände behutsam auf ihren entblößten Babybauch gelegt hatte. Er wünschte sich, er hätte sich für eine andere Lektüre entschieden. Doch ihm war der Titel Was Sie über Schwangerschaftskrankheiten wissen sollten förmlich ins Auge gesprungen; also hatte er die Broschüre gelesen, und nun fühlte er sich umfassender und gründlicher informiert, als ihm lieb war. Er hätte sich auch im Internet darüber schlau machen können. Doch Alina hatte es ihm verboten. Sie hatte gemeint, eine solche Recherche würde einer Selbstanzeige gleichkommen. Früher hatten die Frauen sich über solche Dinge auch kaum Gedanken gemacht. Außerdem fühlte sich Alina bereits aus ihrem Alltag bei Dr. Andris ausreichend aufgeklärt, und sagte ihm, er solle sich keine Sorgen machen.
Während er auf die Sprechstundenhilfe zutrat, fasste er sich ans Gesäß, so als ob ihn der Ischias plagte. In Wahrheit tastete er nach der kleinen Plastikkapsel, die er in seiner Unterhose versteckt hatte. Sie enthielt das Sperma seines Bruders Harald.
Vergangene Woche hatte er seine Vorladung erhalten, die auf braun-grauem, streng riechendem Recyclingpapier gedruckt war und wie ein Steuerbescheid vom Finanzamt aussah. Es war ein standardisiertes Schreiben von der Gemeinde, ohne Unterschrift, und er hatte Datum, Uhrzeit und durchführende Arztpraxis einer Tabelle zu entnehmen, wo die entsprechenden Angaben angekreuzt waren. Bei etwaiger Abwesenheit hätte er die untere Seite des Schreibens abtrennen und, binnen vierzehn Tagen, unter Angabe des Verhinderungsgrundes und eines Ausweichtermins, an die Gemeinde zurücksenden müssen. Es wurde somit ein spürbar strengerer Ton angeschlagen, denn der Regierung war klar, dass sie ihr Volk mit den Vorräten der Samenbanken nur eine begrenzte Zeit lang versorgen konnte. Er hatte zunächst befürchtet, dass Harald seine Hilfe nach ihrem Disput nun doch verweigern würde. Das war aber nicht der Fall. Harald war zwar nicht besonders gesprächig am Telefon gewesen, hatte ihm aber versprochen, die Probe am Tag des Termins zu nehmen und bereitzuhalten.
Er hatte sich extra einen halben Tag freinehmen müssen. Sein Termin war auf neun Uhr morgens angesetzt worden. Er war bei Harald vorbeigefahren, um die Kapsel abzuholen (nicht ohne sich etliche Male zu bedanken und zu versprechen, ihn dafür demnächst zum Abendessen einzuladen), dann war er pünktlich beim Langenhofener Urologen erschienen, wo bereits das halbe Dorf wartete. Nun war es halb zwölf, als er hinter der Sprechstundenhilfe durch die teppichbelegten Flure der Arztpraxis schritt.
Die blonde Dame machte vor einer weißen Tür Halt und öffnete sie. „Einen kleinen Moment“, bat sie. Alexander trat ein, und sie schloss die Tür hinter ihm. Er schien sich in einem Sprechzimmer zu befinden, dem Schreibtisch und den Stühlen nach zu urteilen, in dem sich jedoch außer ihm gerade niemand aufhielt. Da öffnete sich eine weitere Tür an der Wand zu seiner Rechten und ein junger, hagerer Mann mit hektischem Gesichtsausdruck erschien, der ein Klemmbrett und einen Kugelschreiber in der Hand hielt. „Guten Tag, kommen Sie bitte hier herein“, sagte er mit lauter, sachlicher Stimme und machte eine einladende Geste. Alexander folgte ihr und fand sich in einem kleinen, neonbeleuchteten Raum mit hellgrauen Wänden wieder. In einer Ecke des Raumes stand ein hölzerner Schemel, und eine andere Ecke wurde komplett von einem Gerüst eingenommen, das aus Metallstreben und einem samtroten, schwer aussehenden Vorhang bestand und wie eine Umkleidekabine aussah.
Читать дальше