Vergebens pfiff Dick zu den offenen, nicht mit Läden versehenen Fenstern hinauf. Tim Hagan junior war nicht zu Hause. Dick vergeudete jedoch nicht viel Atem auf das Pfeifen, sondern dachte nach, wo Tim Hagan stecken mochte, als Tim selbst mit einer Kanne schäumenden Bieres um die Ecke kam. Er grüßte mit einem Grunzen, und Dick antwortete mit einem ähnlichen Grunzen, – niemand würde geglaubt haben, daß er erst vor einem Augenblick eine Audienz mit drei der größten Handelsfürsten dieser Stadt mit den vielen Handelsdynastien abgeschlossen hatte. Und daß er der Besitzer von zwanzig Millionen war, konnte man weder aus seiner Stimme erkennen, noch machte es sein Grunzen auch nur einen Deut kultivierter.
»Ich hab' dich gar nicht mehr gesehn, seit dein Alter starb«, meinte Tim Hagan.
»Na, jetzt siehst du mich ja«, lautete die Antwort Dicks. »Aber hör' mal, Tim, ich muß ernsthaft mit dir reden.«
»Wart', bis ich das hier meinem Alten raufgebracht hab'«, sagte Tim, sachverständig das Bier in der Kanne betrachtend. »Er brüllt wie ein Ochse, wenn es schal ist.«
»Ach, du brauchst es ja bloß ein bißchen zu schütteln«, sagte Dick beruhigend. »Nur einen Augenblick. Ich brenne heut' abend durch. Kommst du mit?«
Tims kleine blaue Augen funkelten neugierig. »Wohin?« fragte er.
»Das weiß ich nicht. Kommst du mit? Wir können immer noch näher drüber reden, wenn wir wegkommen. Also, wie ist es?«
»Der Alte wird mir die Seele zum Leib herausprügeln«, sagte Tim nachdenklich.
»Das hat er schon früher getan, und ich finde nicht, daß du Schaden dabei genommen hast«, antwortete Dick gefühllos. »Wenn du mitkommst, treffen wir uns heut abend um neun beim Fährhaus. Also? Ich bin da.«
»Und wenn ich nicht da bin?« fragte Tim.
»Dann brenne ich doch durch.« Dick wandte sich zum Gehen, blieb aber stehen und warf leicht über die Schulter hin:
»Aber es ist schon besser, du kommst mit.«
Tim schüttelte das Bier und sagte ebenso gleichgültig: »Schön, ich werde da sein.«
Nachdem Dick sich von Tim Hagan getrennt hatte, folgten ein paar geschäftige Stunden. Zuerst suchte er einen Schulkameraden namens Marcovich auf, dessen Vater eine Gastwirtschaft hatte. Der junge Marcovich war Dick zwei Dollar schuldig, und Dick erklärte sich bereit, die Schuld gegen Zahlung von einem Dollar und vierzig Cent bar zu streichen.
Nunmehr wanderte Dick sehr verlegen und verwirrt die Montgomerystraße hinab, zwischen all den vielen Pfandleihen schwankend, die sich in der Hauptverkehrsader befanden. Schließlich ging er mit dem Mut der Verzweiflung in eine hinein und erhielt nach einigem Hin und Her einen Zettel und acht Dollar für seine goldene Uhr, die, wie er wußte, mindestens fünfzig wert war.
Das Mittagessen im Nob-Hill-Palais kam um halb sieben Uhr auf den Tisch. Er erschien um dreiviertel und fand Frau Summerstone vor. Sie war eine dicke, ältere Dame, die einst bessere Tage gesehen hatte und der großen Familie Porter-Rickington angehörte, deren Konkurs in den Siebzigern die ganze Pacific-Küste erschüttert hatte. Trotz ihrer Wohlbeleibtheit hatte sie, wie sie erklärte, schwache Nerven.
»Das geht aber nicht, Richard«, verwies sie ihn. »Das Essen wartet schon eine Viertelstunde, und du hast dich noch nicht einmal gewaschen.«
»Entschuldigen Sie, Frau Summerstone«, sagte Dick. »Ich werde Sie nie wieder warten lassen und Ihnen überhaupt nicht viel Mühe machen.«
Beim Essen, das in aller Feierlichkeit eingenommen wurde, – die beiden saßen allein in dem großen Speisesaal, – spielte sich Dick Frau Summerstone gegenüber vollkommen als Wirt auf.
»Es wird Ihnen hier schon gefallen, wenn Sie sich erst eingelebt haben,« sagte er. »Es ist ein gutes, altes Haus, und die Dienerschaft ist zum größten Teil seit Jahren hier.«
»Aber Richard,« sagte sie, ihn ernst lächelnd ansehend, »die Dienerschaft ist ja nicht für mein Wohlergehen maßgebend, sondern du.«
»Ich werde mein Bestes tun«, sagte er zuvorkommend. »Und mehr als das. Es tut mir leid, daß ich mich verspätet habe, aber es soll nicht wieder vorkommen. Ich werde Sie nicht im geringsten belästigen. Sie werden sehen! Es wird so sein, als ob ich gar nicht hier wäre.«
Als er ihr ›Gute Nacht‹ sagte, fügte er hinzu:
»Vor einem möchte ich Sie warnen: Ah Sing. Das ist unser Koch. Zwanzig, dreißig Jahre, glaub' ich, hat er für Vater gekocht, lange, ehe das Haus hier gebaut oder ich geboren wurde. Er hat Privilegien und ist so gewohnt, seinen Willen zu haben, daß man ihn wie ein rohes Ei behandeln muß. Wenn er einen aber gern hat, dann kann er sich auf den Kopf stellen, um es einem recht zu machen. Mich hat er zum Beispiel gern, und wenn Sie ihn dazu kriegen können, daß er Sie auch mag, dann werden Sie sich hier mehr als wohl fühlen. Und das verspreche ich Ihnen: Ich werde Ihnen keine Mühe machen. Sie werden denken, ich sei gar nicht da.«
Auf die Sekunde um neun Uhr traf Dick in seinem ältesten Zeug Tim Hagan beim Fährhaus.
»Nach Norden zu gehen, hat keinen Zweck«, sagte Tim. »Dort ist es bald Winter, und dann wird es zu kalt, um im Freien zu schlafen. Willst du nach Osten – das heißt, nach Nevada und in die Wüste?«
»Warum nicht nach Süden?« meinte Dick. »Wir könnten nach Los Angeles, nach Arizona und Neu-Mexiko – oh, und nach Texas.«
»Wieviel Geld hast du?« fragte Tim.
»Wozu?« stellte Dick die Gegenfrage.
»Wir müssen vor allem sehen, von hier wegzukommen, und das geht am schnellsten, wenn wir zunächst bezahlen. Ich – ich bin ein Floh, aber du nicht. Die Leute, die auf dich aufpassen, werden einen Höllenlärm schlagen. Sie werden so viele Detektive hinter uns herschicken, daß man nicht vor ihnen ausspucken kann. Wir müssen versuchen, durchzuwitschen.«
»Dann witschen wir eben durch«, sagte Dick. »Wir machen kurze Abstecher, mal nach der einen, mal nach der andern Seite, und bezahlen, bis wir nach Tracy kommen. Dann bezahlen wir nicht mehr und gehen nach dem Süden.«
Dieses Programm befolgten sie genau. Als zahlende Fahrgäste passierten sie Tracy sechs Stunden, nachdem die Polizei es aufgegeben hatte, die Züge zu untersuchen. In einem Anfall übertriebener Vorsicht bezahlte Dick noch die Fahrt bis nach Modesta. Dann übernahm Tim die Führung, und sie reisten als blinde Passagiere auf Güter- und Packwagen und auf Kuhfängern. Einmal kaufte Tim eine Zeitung und erschreckte Dick durch das Vorlesen der unheimlichen Berichte über die Entführung des jungen Erben der Forrestschen Millionen.
In San Francisco setzten die Vormünder dreißigtausend Dollar Belohnung auf die Herbeischaffung ihres Mündels aus, und Tim Hagan, der das alles las, als die beiden Jungen im Grase bei einem Wassertank lagen, prägte dem Hirne Dicks für immer die Lehre ein, daß Ehre, die nicht feil war, nicht von Stellung und Kaste abhing, daß sie in Palästen sowohl wie in einer armseligen Behausung über einem Krämerladen gedeihen konnte.
»Hoppla!« sagte Tim ins Blaue hinein. »Der Alte würde heilfroh sein, wenn ich aus der Schule schwatzte und die dreißigtausend verdiente. Mir wird ganz schwindlig, wenn ich daran denke.«
Aus dem Umstand, daß Tim so offen davon sprach, schloß Dick, daß der Sohn des Schutzmanns ihn unter keinen Umständen verraten würde.
Erst sechs Wochen später, in Arizona, berührte Dick die Sache.
»Siehst du, Tim,« sagte er, »ich habe Berge von Geld. Mein Vermögen wächst immerzu, und ich verbrauche nichts, – jedenfalls ist es nicht der Rede wert, – wenn Frau Summerstone auch achtzehnhundert Dollar jährlich und Kost und Logis dazu von mir kriegt, während wir beide uns mit den Überbleibseln aus den Eimern der Heizer in den Lokomotivschuppen begnügen müssen. Und dabei wächst mein Vermögen beständig. Was sind zehn Prozent von zwanzig Millionen Dollar?«
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