Quangel hatte lange geschwankt, ob er diese Begegnung mit Trudel der Anna erzählen sollte oder nicht. Er entschloß sich dann doch dazu: Er wollte nicht das kleinste Geheimnis vor ihr haben.
Sie hatte auch ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren, obwohl die Gefahr, daß durch Trudel etwas verraten wurde, ganz gering war; auch von einer ganz geringen Gefahr mußte Anna wissen. Er erzählte es ihr also, genau wie es geschehen war, ohne seinen Leichtsinn zu beschönigen.
Es war bezeichnend für Anna, wie sie reagierte. Die Trudel und ihre Verheiratung und das erwartete Kind interessierten sie gar nicht, aber sie flüsterte, sehr erschrocken: »Aber denke doch, Otto, wenn da ein anderer gestanden hätte, einer von der SA!«
Er lächelte verächtlich: »Es hat aber kein anderer da gestanden! Und von jetzt an bin ich wieder vorsichtig!«
Aber diese Versicherung konnte sie nicht beruhigen. »Nein, nein«, sagte sie heftig. »Von nun an werde ich allein die Karten austragen. Auf eine alte Frau achtet niemand. Du fällst allen Leuten gleich auf, Otto!«
»Ich bin in zwei Jahren keinem aufgefallen, Mutter. Das kommt gar nicht in Frage, daß du das gefährlichste Geschäft allein besorgst! Das wäre so was, wenn ich mich hinter deiner Schürze versteckte!«
»Ja«, erwiderte sie ärgerlich. »Nun komm mir auch noch mit solchen dummen Männerredensarten! Was für ein Unsinn: dich hinter meiner Schürze verstecken. Daß du Mut hast, das weiß ich auch so, aber daß du unvorsichtig bist, das habe ich nun erfahren, und danach richte ich mich. Da kannst du reden, was du willst!«
»Anna«, sagte er und faßte ihre Hand, »du darfst mir nun auch nicht, wie es andere Frauen tun, stets denselben Fehler vorwerfen! Ich habe dir gesagt, ich werde vorsichtiger sein, und das mußt du mir glauben. Ich hab’s ja zwei Jahre lang nicht schlecht gemacht – warum soll es da in Zukunft schlecht gehn?«
»Ich sehe nicht ein«, sagte sie hartnäckig, »warum ich nicht die Karten verteilen soll. Ich hab’s doch bisher dann und wann tun dürfen.«
»Das sollst du auch weiter. Wenn’s zu viele sind oder wenn mich das Reißen plagt.«
»Aber ich habe mehr Zeit als du. Und ich falle wirklich nicht so auf. Und ich habe jüngere Beine. Und ich will hier nicht vor Angst umkommen, alle Tage, wenn ich dich unterwegs weiß.«
»Und was denkst du über mich? Meinst du, ich sitze hier zufrieden im Haus, wenn ich weiß, die Anna läuft draußen herum? Verstehst du nicht, daß ich mich schämen müßte, wenn du die meiste Gefahr trügest? Nein, Anna, das kannst du nicht von mir verlangen!«
»So laß uns gemeinsam gehen. Vier Augen sehen mehr als zwei, Otto.«
»Zu zweien würden wir mehr auffallen, einer allein schiebt sich leicht unter die andern. Und ich glaube auch nicht, daß in so ’ner Sache vier Augen mehr sehn als zwei. Da verläßt sich schließlich das eine immer auf das andere. Und überhaupt, Anna, sei nicht bös, es würde mich nervös machen, wenn ich dich neben mir weiß, und ich glaube, dir würde es nicht anders gehen.«
»Ach, Otto«, sagte sie. »Ich weiß ja, wenn du etwas willst, setzt du es auch durch. Ich kann mich nicht gegen dich behaupten. Aber ich werde vor Angst umkommen, jetzt, wo ich dich so in Gefahr weiß.«
»Die Gefahr ist nicht größer als früher, nicht größer als damals, als ich die erste Karte in der Neuen Königstraße ablegte. Gefahr ist immer, Anna, für jeden, der das tut, was wir tun. Oder möchtest du, daß wir ganz damit aufhören?«
»Nein!« rief sie laut. »Nein, ich hielte es keine zwei Wochen ohne diese Karten aus! Wozu leben wir dann noch? Das ist ja unser Leben, diese Karten!«
Er lächelte düster, mit einem düsteren Stolz sah er sie an.
»Siehst du, Anna«, sagte er dann. »So mag ich dich. Wir haben keine Angst. Wir wissen, was uns droht, und wir sind bereit, zu jeder Stunde sind wir bereit – aber hoffentlich geschieht es zu einer möglichst späten Stunde.«
»Nein«, sagte sie. »Nein. Ich denke immer, es geschieht nie. Wir überleben den Krieg, wir überleben die Nazis, und dann …«
»Dann?« fragte auch er, denn plötzlich sahen sie – nach dem endlich errungenen Sieg – ein völlig leeres Leben vor sich.
»Nun«, sagte sie, »ich denke, wir werden auch dann noch etwas finden, für das es sich lohnt zu kämpfen. Vielleicht ganz offen, ohne so viel Gefahren.«
»Gefahr«, sagte er, »Gefahr ist immer, Anna, sonst ist es ja kein Kampf. Manchmal weiß ich, daß sie mich so nicht kriegen werden, und dann liege ich Stunden und Stunden und grüble, wo sonst Gefahr ist, was ich vielleicht übersehen habe. Ich grüble, ich finde nichts. Und doch ist irgendwo Gefahr, ich fühle das. Was können wir vergessen haben, Anna?«
»Nichts«, sagte sie. »Nichts. Wenn du mit dem Kartenverteilen vorsichtig bist …«
Er schüttelte unmutig den Kopf. »Nein, Anna«, sagte er, »so meine ich es nicht. Die Gefahr steht nicht auf der Treppe und nicht beim Schreiben. Die Gefahr steht ganz woanders, wo ich nicht hinsehen kann. Plötzlich werden wir aufwachen und wissen, da hat sie immer gestanden, aber wir haben sie nicht gesehen. Und dann wird es zu spät sein.«
Sie verstand ihn noch immer nicht. »Ich weiß nicht, warum du dir plötzlich Sorgen machst, Otto«, sagte sie. »Wir haben doch alles hundertmal überlegt und erprobt. Wenn wir nur vorsichtig sind …«
»Vorsichtig!« rief er, unmutig über ihr fehlendes Verständnis, aus. »Wie kann man sich vor etwas vorsehen, das man nicht sieht! Ach, Anna, du verstehst mich nicht! Man kann nicht alles ausrechnen im Leben!«
»Nein, ich versteh dich nicht«, sagte sie kopfschüttelnd. »Ich glaube, du machst dir unnötige Sorge, Vater. Ich glaube, du solltest mehr schlafen in der Nacht, Otto. Du schläfst zuwenig.«
Er schwieg.
Nach einer Weile fragte sie: »Weißt du, wie die Trudel Baumann jetzt heißt und wo sie wohnt?«
Er schüttelte den Kopf. Er sagte: »Ich weiß es nicht, und ich will es auch nicht wissen.«
»Ich möchte es aber wissen«, sagte sie hartnäckig. »Ich will es mit meinen eigenen Ohren hören, daß es mit dem Ablegen der Karte glattgegangen ist. Du hättest ihr das nicht überlassen sollen, Otto! Was weiß so ’n Kind, was sie da tut. Vielleicht hat sie die Karte ganz offen hingelegt, und die haben sie dabei gekitscht. Und wenn die erst einmal so eine junge Frau in den Fängen haben, dann wissen sie auch bald den Namen Quangel.«
Er schüttelte den Kopf: »Ich weiß, von der Trudel droht uns keine Gefahr.«
»Ich möchte es aber sicher wissen!« rief Frau Quangel. »Ich werde in ihre Fabrik gehen und mich erkundigen.«
»Du wirst nicht gehen, Mutter! Trudel gibt es nicht mehr für uns. Nein, rede nicht, du bleibst hier. Ich will kein Wort mehr davon hören.«
Dann, als er sie noch immer widerspenstig sah, sagte er: »Glaube mir schon, Anna, es ist alles richtig, wie ich es dir sage. Von der Trudel brauchen wir nicht mehr zu sprechen, das ist alles erledigt. Aber«, fuhr er leiser fort, »aber wenn ich nachts wach liege, dann denke ich oft, daß wir doch nicht heil durchkommen werden, Anna.«
Sie sah ihn mit großen Augen an.
»Und dann male ich mir alles aus, wie es werden wird. Es ist gut, sich so etwas vorher auszumalen, dann kann einen nichts mehr überraschen. Denkst du manchmal daran?«
»Ich weiß nicht genau, wovon du sprichst, Otto«, sagte Anna Quangel abweisend.
Er stand mit dem Rücken gegen das Bücherbrett Ottochens gelehnt, eine Schulter von ihm berührte das Radiobastelbuch des Jungen. Er sah sie durchdringend an.
»Sobald sie uns verhaftet haben, werden wir getrennt sein, Anna. Wir werden uns vielleicht noch zwei- oder dreimal sehen, beim Verhör, bei der Verhandlung, vielleicht später noch einmal, eine halbe Stunde vor der Hinrichtung …«
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