Niemand beachtete ihn. Der Kommissar ging auf sein Zimmer.
Die ihm in Aussicht gestellten Befehle erschienen zuerst in der Gestalt von zwei SS-Männern, die ihn finster anstarrten und von denen der eine dann drohend sagte: »Sie haben hier nischt mehr anzurühren, verstehen Sie!«
Escherich wandte den Kopf langsam zu dem Mann hin, der so mit ihm sprach. Das war ein neuer Ton. Nicht, daß Escherich ihn noch nicht kannte, aber ihm gegenüber war er noch nie angewendet worden. Ein einfacher SS-Mann, der Kerl – es mußte schlimm um Escherich stehen, wenn der einen solchen Ton dem Kommissar gegenüber anschlug.
Ein brutales Gesicht, eingedrückte Nase, stark entwickelte Kinnpartie, neigt zu Rohheitsakten, Intelligenz mangelhaft entwickelt, in betrunkenem Zustande gefährlich, resümierte Escherich. Wie hatte das hohe Tier oben gesagt? Fahnenflucht? Lächerlich! Kommissar Escherich und fahnenflüchtig! Aber das sah diesen Brüdern ähnlich, immer hatten sie große Worte im Mund, und nachher passierte gar nichts!
Obergruppenführer Prall und Kriminalrat Zott traten ein.
Na also, haben sie meinen Vorschlag doch angenommen! Das Vernünftigste, was sie tun konnten, trotzdem ich nicht glaube, daß selbst dieser schlaue Tüftelkopf etwas Neues aus dem Material herausschinden kann!
Escherich will gerade den Kriminalrat Zott freundlich-freudig begrüßen, schon um ihm zu zeigen, daß er über die Abgabe des Falles kein bißchen gekränkt ist, da fühlt er sich von den beiden SS-Leuten rauh zur Seite gerissen, und der mit dem Totschlägergesicht schreit: »Melde SS-Männer Dobat und Jacoby mit einem Häftling!«
Häftling – der soll ich wohl sein? denkt Escherich verwundert.
Und laut: »Herr Obergruppenführer, darf ich noch sagen, daß …«
»Mach, daß das Aas die Schnauze hält!« brüllt Prall, der wahrscheinlich auch was auf den Deckel gekriegt hat, wütend.
Der SS-Mann Dobat schlägt Escherich mit der geballten Faust gegen den Mund. Der fühlt einen wütenden Schmerz, widerlich warmen Blutgeschmack im Munde. Dann beugt er sich vornüber und spuckt ein paar Zähne auf den Teppich.
Und während er das alles tut, ganz mechanisch tut, nicht einmal der Schmerz tut richtig weh, denkt er: Ich muß das sofort aufklären. Natürlich bin ich zu allem bereit. Haussuchungen durch ganz Berlin. Spione in jedem Haus, wo mehrere Rechtsanwälte und Ärzte wohnen. Ich tu alles, was ihr wollt, aber ihr könnt mir hier doch nicht einfach in die Fresse schlagen, mir, einem alten Kriminalbeamten und Inhaber des Kriegsverdienstkreuzes!
Indem er fieberhaft so denkt, ganz mechanisch von den Griffen der SS-Männer freizukommen sucht und dabei immer wieder zum Sprechen ansetzt – aber er kann doch wegen der zerrissenen Oberlippe und des blutenden Mundes gar nicht sprechen –, währenddem ist Obergruppenführer Prall vor ihn gesprungen, hat ihn mit beiden Händen vor der Brust gefaßt und geschrien: »Na, haben wir dich endlich soweit, dich hochnäsigen Klugscheißer! Bist dir ja immer mächtig schlau vorgekommen, wenn du mir deine scheißklugen Vorträge hieltst, was? Denkst du vielleicht, ich hab das nicht gemerkt, für wie dumm du mich hieltst, und du warst oberschlau, he? Na, nun haben wir dich, und nun werden wir mit dir Schlitten fahren, das sollst du erleben!«
Einen Augenblick starrte Prall, fast besinnungslos vor Zorn, den blutenden Mann an.
Er schrie: »Spuckst mir hier den Teppich voll, mit deinem dreckigen Hundeblut, was? Schluckst du das Blut runter, du Hund, oder ich schlage dir gleich selber eins in die Schnauze!«
Und der Kommissar Escherich – nein, das jämmerliche, angstvolle Männlein Escherich, das noch vor einer Stunde ein mächtiger Kommissar der Gestapo gewesen war, mühte sich, Todesschweiß auf der Stirn, den widerlich warmen Blutstrom hinunterzuschlucken, nicht den Teppich zu beschmutzen, seinen eigenen, nein, jetzt den Teppich von Herrn Kriminalrat Zott …
Mit gierigen Augen hatte der Obergruppenführer dieses klägliche Benehmen des Kommissars beobachtet. Nun wandte er sich von Escherich mit einem ärgerlichen »Ach was!« ab und fragte den Kriminalrat: »Brauchen Sie den Mann noch zu irgendeiner Aufklärung, Herr Zott?«
Es war ein ungeschriebenes Gesetz, daß all die alten, zum Dienst bei der Gestapo kommandierten Kriminalisten auf Gedeih und Verderb zusammenhielten, wie ja auch die SS untereinander zusammenhielt – oft gegen die Kriminalbeamten. Nie wäre es Escherich eingefallen, einen auch noch so schuldbeladenen Kollegen der SS auszuliefern; er hätte sich eher bemüht, vor denen auch die größte Schandtat zu verstecken. Und nun mußte er erleben, wie der Kriminalrat nach einem kurzen Blick auf Escherich kalt sagte: »Den Mann? Zu einer Aufklärung? Danke, Herr Obergruppenführer. Ich kläre mich lieber selbst auf!«
»Abführen den Mann«, schrie der Obergruppenführer. »Und macht ihm ein bißchen Beine, Kerls!«
Und im Eiltempo wurde zwischen den beiden SS-Männern der Escherich den Gang entlanggerissen, denselben Gang, den er vor rund einem Jahr den Borkhausen mit einem Tritt hinabgeschickt hatte, lachend über den trefflichen Witz. Und über dieselben Steintreppen wurde er hinuntergeworfen, auf derselben Stelle blieb er blutend liegen, auf der Borkhausen blutend gelegen hatte. Wurde mit Tritten hochgejagt, die Kellertreppe zum Bunker hinuntergeworfen …
Jedes Glied schmerzte ihn, und dann kam es, Schlag auf Schlag: raus aus dem Zivil, rein in die Zebrakluft, die schamlos offene Verteilung seines Besitzes unter die SS-Männer. Und immerzu Hiebe, Püffe, Drohungen …
Oh, jawohl, der Kommissar Escherich hatte das alles oft in den letzten Jahren gesehen, und er hatte nichts Verwunderliches oder Verwerfliches darin gefunden, denn so geschah es ja Verbrechern. Es geschah so mit Recht. Aber daß er, der Kriminalkommissar Escherich, jetzt zu diesen rechtlosen Verbrechern zählen sollte, das wollte ihm nicht in den Kopf. Er hatte nichts verbrochen. Er hatte nur den Vorschlag gemacht, eine Sache abgeben zu dürfen, in der auch seine sämtlichen Vorgesetzten nicht einen brauchbaren Vorschlag hatten machen können. Es würde sich aufklären, sie mußten ihn wieder holen! Sie kamen ja einfach nicht ohne ihn aus! Und bis dahin mußte er Haltung bewahren, er durfte keine Furcht zeigen, nicht einmal seine Schmerzen durfte er sich merken lassen.
Sie brachten gerade noch einen in den Bunker. Einen kleinen Taschendieb, wie man gleich hörte, der das Unglück gehabt hatte, die Dame eines hohen SA-Führers beklauen zu wollen, und der dabei erwischt worden war.
Jetzt brachten sie ihn her, sie hatten ihn wohl schon unterwegs in der Mache gehabt, ein wimmerndes Geschöpf, das nach seinem Kot stank, und das immer wieder, auf den Knien rutschend, die Beine der SS-Männer umschlang: sie möchten ihm doch um der heiligen Maria willen nichts tun! Sie möchten doch Gnade an ihm üben – der liebe Herr Jesus würde es ihnen vergelten!
Die SS-Männer machten sich den Scherz, den Kleinen, der ihre Beine umklammert hielt, im schönsten Betteln mit den Knien ins Gesicht zu stoßen. Dann wälzte sich der Taschendieb schreiend auf der Erde – bis er wieder in die harten Gesichter spähte, in einem den Schimmer von Gnade zu entdecken glaubte und von neuem mit seinen Anrufungen begann …
Und mit diesem Gewürm, mit diesem kotstinkenden Feigling, wurde der allmächtige Kommissar Escherich in eine Zelle gesperrt.
An einem Sonntagmorgen sagte Frau Anna etwas zaghaft: »Ich glaube, Otto, wir müssen mal wieder nach meinem Bruder Ulrich sehen. Du weißt, wir sind dran. Wir haben uns acht Wochen nicht mehr bei Heffkes sehen lassen.«
Otto Quangel sah von seiner Schreiberei hoch. »Schön, Anna«, sagte er. »Dann also nächsten Sonntag. Ist’s recht?«
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