»Und warum lassen Sie ihn da sitzen? Warum haben Sie nicht längst Haussuchung angeordnet in den paar Straßen? Sie müssen ihn da doch schnappen, Escherich! Wir verstehen Sie nicht, sonst sind Sie doch wirklich ganz brauchbar, aber in diesem Falle machen Sie eine Dummheit nach der andern. Wir haben uns mal die Akten angesehen. Da ist diese Geschichte mit dem Kluge, den Sie trotz seines Geständnisses haben laufenlassen! Und dann kümmern Sie sich nicht mehr um ihn und lassen den Burschen glatt Selbstmord verüben, gerade dann, wenn wir ihn am nötigsten gebrauchen! Dummheiten über Dummheiten, Escherich!«
Der Kommissar Escherich, nervös seinen Schnurrbart drehend, gestattet sich, darauf hinzuweisen, daß der Kluge entschieden mit dem Kartenschreiber nicht das geringste zu tun hatte. Die Postkarten waren vor wie nach seinem Tode unverändert gekommen.
»Ich halte sein Geständnis, daß ihm ein Unbekannter die Karte zum Ablegen gegeben hat, für unbedingt glaubhaft.«
»Na, wenn Sie’s nur dafür halten! Wir halten es für notwendig, daß Sie nun endlich etwas tun! Ist uns ganz egal, was, aber jetzt wollen wir Erfolge sehn! Machen Sie also erst mal Haussuchungen in den paar Straßen. Werden ja sehn, was dabei rauskommt. Irgendwas kommt immer raus, überall stinkt’s!«
Wiederum gibt Kommissar Escherich in aller Demut zu bedenken, daß, wenn auch nur ein paar Straßen in Frage kommen, immerhin fast tausend Wohnungen durchsucht werden müssen.
»Es wird die Bevölkerung gewaltig beunruhigen. Die Leute sind schon ohnedies reichlich nervös durch die zunehmenden Fliegerangriffe, und wenn wir ihnen nun erst Grund zum Meckern geben! Aber weiter: Was kann man sich von einer Haussuchung versprechen? Was sollen wir denn eigentlich finden? Der Mann braucht für seine verbrecherische Tätigkeit nur einen Federhalter, hat jeder Haushalt, ein Tintenfläschchen, dito, ein paar Postkarten, dito – dito. Ich wüßte nicht, was für Anhaltspunkte ich meinen Leuten für diese Haussuchungen geben sollte, wonach sie eigentlich zu suchen haben. Höchstens etwas Negatives: der Kartenschreiber besitzt bestimmt keinen Radioapparat. Noch nie habe ich auf all diesen Karten einen Hinweis gefunden, daß er seine Nachrichten aus dem Radio bezogen hätte. Oft ist er einfach schlecht informiert. Nein, ich weiß nicht, worauf ich diese Haussuchung ansetzen soll.«
»Aber liebster, bester Escherich – wir verstehen Sie wirklich nicht mehr! Immer haben Sie nur Bedenklichkeiten, aber nicht einen positiven Vorschlag wissen Sie zu machen! Wir müssen den Mann doch fassen, und das bald!«
»Wir werden ihn auch fassen«, sagte der Kommissar lächelnd, »aber freilich, bald? Das kann ich nicht versprechen. Immerhin glaube ich nicht, daß er noch weitere zwei Jahre seine Postkarten schreiben wird.«
Sie stöhnten.
»Und warum nicht? Weil die Zeit gegen ihn arbeitet. Sehen Sie sich die Fähnchen an, noch hundert mehr, und wir werden ein gewaltiges Stück klarer sehn. Er ist ein verdammt zäher, kaltblütiger Bursche, mein Klabautermann, aber er hat auch einen Schweinedusel gehabt. Mit der Kaltblütigkeit allein ist es nämlich nicht getan, man muß auch ein bißchen Glück haben, und das hat er bisher in fast unbegreiflicher Weise gehabt. Aber das ist genau wie beim Kartenspielen, meine Herren, eine Weile können die Karten für den einen Spieler günstig fallen, aber dann ist es auch plötzlich alle. Plötzlich steht das Spiel gegen den Klabautermann, und wir haben die Trümpfe in der Hand!«
»Alles sehr schön und interessant, Escherich! Feinste Kriminalistentheorie, wir verstehen schon. Aber wir sind nicht so sehr für Theorie, und wir hören aus Ihren Worten nur heraus, daß wir eventuell noch zwei weitere Jahre zu warten haben, bis Sie sich zum Handeln entschließen werden. Da machen wir nicht mit, sondern wir schlagen Ihnen vor, Sie durchdenken den ganzen Fall noch einmal gründlich und machen uns, sagen wir in einer Woche, Ihre Vorschläge. Dann werden wir ja sehen, ob Sie zur Erledigung dieses Falles geeignet sind oder nicht. Heil Hitler, Escherich!«
Der Obergruppenführer Prall aber, der bisher wegen Anwesenheit noch höherer Vorgesetzter die Klappe hatte halten müssen, kam noch einmal in Escherichs Zimmer gestürzt: »Sie Kamel! Sie Idiot! Denken Sie, ich lasse meine Abteilung noch weiter durch einen Trottel, wie Sie es sind, schänden? Eine Woche haben Sie noch Zeit!« Er schüttelte grimmig die Fäuste. »Der Himmel gnade Ihnen, wenn Ihnen auch in dieser Woche nichts einfällt! Ich fahre Schlitten mit Ihnen!« Und so weiter und so weiter. Kommissar Escherich hörte das schon gar nicht mehr.
In der ihm verbliebenen einwöchigen Gnadenfrist beschäftigte sich Kommissar Escherich derart mit dem Fall Klabautermann, daß er sich gar nicht mit ihm beschäftigte. Einmal hatte er sich durch seine Vorgesetzten aus der für richtig erkannten Abwartetaktik herausdrängen lassen, und gleich war alles auf ein falsches Gleis geraten, drum hatte dieser Enno Kluge daran glauben müssen.
Nicht, daß dieser Kluge seinem Gewissen viel zugesetzt hätte. Ein wertloser, jämmerlicher Plärrer, es war ganz unwichtig, ob der lebte oder nicht. Aber der Kommissar Escherich hatte viel Scherereien wegen dieses kleinen Biests gehabt, es hatte einige Mühe gekostet, den einmal geöffneten Mund wieder zu schließen. Ja, in jener Nacht, an die er nicht gerne dachte, war der Kommissar sehr aufgeregt gewesen – und wenn der lange, farblose, graue Mann etwas haßte, so war es Aufgeregtsein.
Nein, nicht noch einmal würde er sich aus der beharrlichen Geduld herauslocken lassen – auch nicht von den höchsten Vorgesetzten. Was konnte ihm viel geschehen? Sie brauchten ihren Escherich, für viele Dinge war er ihnen einfach unersetzlich. Sie würden schimpfen und toben, aber sie würden schließlich doch tun, was das einzig Richtige war: geduldig warten. Nein, Escherich hatte keine Vorschläge zu machen …
Es war eine denkwürdige Sitzung. Diesmal fand sie nicht in Escherichs Zimmer, sie fand im Saal unter dem Vorsitz eines der höchsten Führer statt. Natürlich wurde nicht nur der Fall Klabautermann verhandelt, es wurden auch viele Fälle aus andern Abteilungen besprochen. Es wurde getadelt, gebrüllt, verächtlich gespottet. Und dann kam der nächste Fall.
»Kommissar Escherich, wollen Sie uns jetzt vortragen, was Sie uns über den Fall des Postkartenschreibers zu sagen haben?«
Der Kommissar wollte es vortragen. Er gab einen kleinen Bericht über das Geschehene und das bisher Ermittelte. Er machte das ausgezeichnet, kurz, genau, nicht ohne Witz, wobei er gedankenvoll seinen Schnurrbart streichelte.
Dann kam die Frage des Vorsitzenden: »Und was für Vorschläge haben Sie nun zur Erledigung dieses seit zwei Jahren anstehenden Falles zu machen? Zwei Jahre, Kommissar Escherich!«
»Ich kann nur weiter geduldiges Warten empfehlen, etwas anderes gibt es nicht. Aber vielleicht könnte man den Fall Herrn Kriminalrat Zott zur Nachprüfung übergeben?«
Einen Augenblick herrschte Totenstille.
Dann brach hier und da spöttisches Gelächter aus. Eine Stimme rief: »Drückeberger!«
Eine andere: »Erst verpfuschen, dann andere damit belasten!«
Obergruppenführer Prall ließ donnernd die Faust auf den Tisch fallen: »Ich werde mit dir Schlitten fahren, du Aas!«
»Ich bitte um vollkommene Ruhe!«
Die Stimme des Vorsitzenden klang leicht angewidert. Es wurde still.
»Wir haben hier eben ein Verhalten erlebt, meine Herren, das fast einer – Fahnenflucht gleichzusetzen ist. Feiges Ausreißen vor den Schwierigkeiten, die jeder Kampf unvermeidlich bringt. Ich bedaure das. Escherich, Sie sind von der weiteren Teilnahme an dieser Sitzung entbunden. Warten Sie in Ihrem Dienstzimmer meine Befehle ab!«
Der Kommissar, völlig fahl (denn nichts Derartiges hatte er erwartet), verbeugte sich. Dann ging er zur Tür, dort knallte er die Absätze zusammen und brüllte mit ausgestrecktem Arm: »Heil Hitler!«
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