»Nein! Nein! Nein!« Sie schrie es. »Ich will nicht, daß du davon sprichst! Wir werden durchkommen, Otto, wir müssen durchkommen!«
Er legte seine große, verarbeitete Hand beruhigend auf ihre kleine, warme, zitternde.
»Und wenn wir nicht durchkommen? Würdest du irgendetwas bereuen? Möchtest du etwas ungetan wissen von dem, was wir getan haben?«
»Nein, nichts! Aber wir werden unentdeckt durchkommen, Otto, ich fühle das!«
»Siehst du, Anna«, sagte er, ohne auf ihre letzte Versicherung zu achten. »Das wollte ich hören. Wir werden nie etwas bereuen. Wir werden zu dem stehen, was wir getan haben, auch wenn sie uns sehr quälen.«
Sie sah ihn an, sie versuchte, ein Zittern zu unterdrücken. Vergeblich. »Ach Otto!« rief sie schluchzend. »Warum mußt du so reden? So ziehst du das Unglück ja nur auf uns. Nie hast du noch so geredet!«
»Ich weiß nicht, warum ich so heute mit dir reden muß«, sagte er und ging von dem Bücherbrett fort. »Ich muß es einmal. Wahrscheinlich werde ich nie wieder mit dir darüber sprechen. Aber einmal mußte ich es. Denn du mußt wissen, wir werden dann sehr allein sein in unsern Zellen, ohne ein Wort zueinander, die wir viel über zwanzig Jahre nicht einen Tag ohne das andere gelebt haben. Es wird uns sehr schwerfallen. Aber wir werden voneinander wissen, daß keines je schlappmacht, daß wir uns aufeinander verlassen können, wie im ganzen Leben so auch im Tode. Wir werden auch allein sterben müssen, Anna.«
»Otto, du sprichst, als wäre es schon soweit! Und wir sind doch ganz frei und außer Verdacht. Wir könnten jeden Tag damit aufhören, wenn wir wollten …«
»Aber wollen wir? Können wir überhaupt wollen?«
»Nein, ich sage nicht, daß wir aufhören wollen. Ich will’s nicht, das weißt du! Aber ich will auch nicht, daß du sprichst, als hätten sie uns schon gefaßt und als bliebe uns nur noch das Sterben. Ich will noch nicht sterben, Otto, ich möchte mit dir leben!«
»Wer will denn sterben?« fragte er. »Alle wollen sie doch leben, alle, alle – auch das armseligste Würmlein schreit nach Leben. Auch ich will noch leben. Aber es ist vielleicht gut, Anna, schon im ruhigen Leben an ein schweres Sterben zu denken, sich darauf vorzubereiten. Daß man weiß, man wird anständig sterben können, ohne Gewimmer und Geschrei. Das fände ich ekelhaft …«
Eine Weile war es still.
Dann sagte Anna Quangel leise: »Du kannst dich auf mich verlassen, Otto. Ich werde dir schon keine Schande machen.«
36
Der Sturz des Kommissars Escherich
In dem Jahr, das auf den »Selbstmord« des kleinen Enno Kluge gefolgt war, hatte der Kommissar Escherich ein verhältnismäßig ruhiges Leben führen können, nicht gar zu belästigt durch die Ungeduld seiner Vorgesetzten. Damals, als dieser Selbstmord gemeldet worden war, als ersichtlich wurde, daß der schmächtige Mann sich allen Verhören durch Gestapo und SS entzogen hatte, gab es natürlich bei Obergruppenführer Prall Gewitter über Gewitter. Aber das legte sich mit der Zeit, die Spur war endgültig kalt geworden, nun mußte auf eine neue Spur gewartet werden.
Im übrigen war dieser Klabautermann nicht mehr so wichtig. Die sture Monotonie, mit der er Karten immer gleichen Inhalts schrieb, die niemand las, niemand lesen wollte, und die alle Leute in Verlegenheit oder Angst stürzten, ließ ihn nur lächerlich und dumm erscheinen. Wohl piekte Escherich noch brav seine Fähnchen in den Stadtplan von Berlin. Mit einiger Befriedigung sah er, daß sie nördlich vom Alexanderplatz immer dichter wurden – da mußte der Vogel sein Nest haben! Und dann diese auffällige Ansammlung von fast zehn Fähnchen südlich vom Nollendorfplatz – auch dort mußte der Klabautermann regelmäßig, wenn auch in großen Zeitabständen hinkommen. Das alles würde sich eines Tages schon noch befriedigend aufklären …
Du kommst uns schon! Du kommst uns immer näher, unvermeidlich! kicherte der Kommissar und rieb sich die Hände.
Aber dann ging er wieder zu seinen andern Arbeiten über. Es gab wichtigere und dringendere Fälle. Eine Art Wahnsinniger, ein überzeugter Nazi, wie er sich titulierte, war gerade sehr aktuell, er tat nichts, als alle Tage dem Minister Goebbels einen grob beleidigenden, oft pornographischen Brief zu schreiben. Zuerst hatten diese Briefe den Minister amüsiert, später irritiert, dann hatte er getobt und sein Opfer verlangt. Seine Eitelkeit war tödlich verletzt.
Nun, Kommissar Escherich hatte Glück gehabt, er hatte den Fall »Schweinigel«, wie er ihn getauft hatte, binnen heute und einem Vierteljahr erledigen können. Der Briefschreiber, der übrigens wirklich in der Partei war und sogar altes Parteimitglied, war zu Herrn Minister Goebbels gebracht worden, und damit konnte Escherich den Fall ad acta legen. Er wußte, er würde nie wieder etwas von »Schweinigel« hören. Der Minister verzieh nie eine ihm angetane Kränkung.
Dann kamen andere Fälle – vor allem der jenes Mannes, der an prominente Leute Enzykliken des Papstes und Radioansprachen von Thomas Mann versandte, echte und gefälschte. Ein geschickter Bursche, dieser Mann – es war nicht ganz einfach gewesen, ihn zu kriegen. Aber schließlich hatte Escherich ihn doch für die Hinrichtungszelle in der Plötze reif machen können.
Und dieser kleine Prokurist, der plötzlich größenwahnsinnig geworden war, der sich zum Generaldirektor eines nicht existierenden Stahlwerkes gemacht hatte und der vertrauliche Briefe nicht nur an andere Direktoren tatsächlich existierender Werke schrieb, sondern auch an den Führer, die über den alarmierenden Stand der deutschen Rüstungsindustrie Einzelheiten mitteilten, die oft nicht erfunden sein konnten. Nun, dieser Vogel war verhältnismäßig leicht zu fangen gewesen; der Kreis der Leute, die solche Informationen besaßen wie der Briefschreiber, war verhältnismäßig klein.
Ja, Kommissar Escherich hatte einige bedeutsame Erfolge gehabt; in den Kollegenkreisen munkelte man schon, er werde bald außer der Reihe aufrücken. Es war ein ganz erfreuliches Jahr gewesen, dieser Zeitraum seit dem Selbstmord des kleinen Kluge; der Kommissar Escherich war zufrieden.
Aber dann kam eine Zeit, da standen die Vorgesetzten Escherichs plötzlich wieder vor dem Stadtplan Klabautermann still. Sie ließen sich die Fähnchen erklären, sie nickten nachdenklich, wenn auf ihre Massierung nördlich des Alexanderplatzes hingewiesen wurde, sie nickten noch nachdenklicher, wenn Escherich auf diesen interessanten Vortrupp südlich des Nollendorfplatzes verwies, und dann sagten sie: »Und was haben Sie nun für Spuren, Herr Escherich? Was für Pläne haben Sie ausgeheckt, diesen Klabautermann zu fangen? Seit dem Einmarsch in Rußland ist der Bursche ja mächtig aktiv geworden! In der letzten Woche waren es ja wohl fünf Briefe und Postkarten?«
»Ja«, sagte der Kommissar. »Und in dieser Woche sind es auch schon wieder drei!«
»Also wie steht die Sache, Escherich? Bedenken Sie, wie lange der Mann jetzt schon schreibt, das kann doch unmöglich so weitergehen! Wir haben hier kein statistisches Amt zur Registrierung von hochverräterischen Karten, Sie sind ein Fahndungsbeamter, mein Lieber! Also, was haben Sie für Spuren?«
So bedrängt, beklagte sich der Kommissar bitter über die Dummheit der zwei Frauen, die den Mann gesehen und nicht angehalten hatten, die ihn gesehen hatten und nicht mal beschreiben konnten.
»Ja, ja, alles schön und gut, mein Lieber. Aber wir reden hier nicht von Zeugendummheit, wir reden von den Spuren, die Ihr kluges Köpfchen gefunden hat!«
Worauf der Kommissar die Herren wieder an die Karte führte und ihnen flüsternd zeigte, nur ein bestimmter, nicht sehr großer Bezirk blieb völlig frei von Fahnen.
»Und in diesem Bezirk steckt mein Klabautermann. Da legt er keine Karte ab, weil er zu bekannt ist, weil er immer befürchten muß, daß ihn ein Nachbar sieht. Es sind nur ein paar Straßen, alles kleine Leute, die da wohnen. Da sitzt er.«
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