Also: dieser Sonntag war auch ohne Aussprache gut. Lange hatte Anna Quangel den Mann nicht so milde gesehen, es war, als schiene die Sonne noch einmal, ein letztes Mal über das Land, ehe der Winter kam, der alles Leben unter seiner Eis- und Schneedecke verbarg. In den nächsten Monaten, die Quangel immer kälter und wortkarger machten, mußte sie oft an diesen Sonntag zurückdenken, er war ihr Trost und Aufmunterung zugleich.
Dann fing die Arbeitswoche wieder an, eine dieser immer gleichen Arbeitswochen, die eine der andern ähnelten, ob nun Blumen blühten oder Schnee draußen trieb. Die Arbeit war immer die gleiche, und die Menschen blieben auch, was sie gewesen waren.
Nur ein kleines Erlebnis, ein ganz kleines, hatte Otto Quangel. Als er zur Fabrik ging, kam ihm in der Jablonskistraße der Kammergerichtsrat a.D. Fromm entgegen. Quangel hätte ihn schon gegrüßt, aber er scheute die Augen der Persickes. Er wollte auch nicht, daß Borkhausen, von dem Anna ihm erzählt hatte, die Gestapo habe ihn mitgenommen, etwas sähe. Der Borkhausen war nämlich wieder da, wenn er überhaupt je fortgewesen war, und hatte sich vor dem Hause herumgedrückt.
So ging denn Quangel stur, ohne ihn zu sehen, an dem Kammergerichtsrat vorbei. Der hatte wohl nicht so viele Bedenken, jedenfalls lüftete er leicht seinen Hut vor dem Mitbewohner des Hauses, lächelte mit den Augen und ging ins Haus.
Gerade recht! dachte Quangel. Wer’s gesehen hat, denkt: Der Quangel bleibt immer der gleiche rohe Klotz, und der Kammergerichtsrat ist ein feiner Mann. Aber daß die beiden was miteinander zu tun haben, das denkt er nicht!
Der Rest der Woche verlief ohne alle besonderen Ereignisse, und so kam der Sonntag wieder heran, dieser Sonntag, von dem sich Anna Quangel endlich die so sehnlich erwartete und so lange aufgeschobene Aussprache mit Otto über seine Pläne erwartete. Er war erst spät aufgestanden, aber er war guter Stimmung und nicht ruhelos. Manchmal sah sie ihn beim Kaffeetrinken rasch von der Seite an, ein wenig aufmunternd, aber er schien das nicht zu merken, er aß, langsam kauend, sein Brot und rührte dabei in seinem Kaffee.
Nur schwer konnte sich Anna entschließen, das Geschirr fortzuräumen. Aber diesmal war es wirklich nicht an ihr, das erste Wort zu sprechen. Er hatte ihr für den Sonntag diese Aussprache zugesagt, und er würde schon sein Wort halten, jede Aufforderung von ihr hätte wie ein Drängen ausgesehen.
So stand sie mit einem ganz leisen Seufzer auf und trug die Tassen und die Teller in die Küche. Als sie zurückkam, um den Brotkorb und die Kanne zu holen, kniete er vor einem Schubfach der Kommode und kramte darin herum. Anna Quangel konnte sich nicht erinnern, was eigentlich in diesem Schubfach lag. Es konnte nur alter, längst vergessener Schraps sein. »Suchst du was Bestimmtes, Otto?« fragte sie.
Aber er gab nur einen Knurrlaut von sich, so zog sie sich tief in die Küche zurück, um abzuwaschen und das Essen vorzubereiten. Er wollte nicht. Er wollte also wieder nicht! Und mehr denn je war sie der Überzeugung, daß sich etwas in ihm vorbereitete, von dem sie immer noch nichts wußte und das sie doch wissen mußte!
Später, als sie wieder in die Stube hineinkam, um sich beim Kartoffelschälen in seine Nähe zu setzen, fand sie ihn an dem seiner Decke beraubten Tisch, die Platte lag voller Schnitzmesser, und kleine Späne bedeckten bereits den Boden um ihn. »Was tust du denn, Otto?« fragte sie maßlos erstaunt.
»Mal sehen, ob ich noch schnitzen kann«, gab er zurück.
Sie war ein wenig gereizt. Wenn Otto auch kein großer Kenner der Menschenseele war, eine kleine Ahnung mußte er doch davon haben, wie es in ihr aussah, mit welcher Spannung sie jede Mitteilung von ihm erwartete. Und nun hatte er seine Schnitzmesser aus ihren ersten Ehejahren hervorgeholt und schnippelte am Holz herum ganz wie damals, als er sie durch sein ewiges Schweigen zur Verzweiflung brachte. Damals war sie seine Wortkargheit noch nicht so gewohnt gewesen wie heute, aber heute, gerade heute, da sie sie gewohnt war, schien sie ihr völlig unerträglich. Schnitzen, du lieber Gott, wenn das alles war, was diesem Mann nach solchen Erlebnissen einfiel! Wenn er sich mit stundenlanger schweigender Schnitzkunst seine so eifersüchtig gehütete Stille wiederholen wollte – nein, das würde eine schwere Enttäuschung für sie bedeuten. Er hatte sie schon oft schwer enttäuscht, aber diesmal würde sie das nicht so stillschweigend ansehen können.
Während sie dies alles sehr unruhig und verzweifelt überdachte, sah sie doch mit halber Neugier auf das längliche, dicke Holzstück, das er nachdenklich zwischen seinen großen Händen drehte, von dem er mit seinem Messer dann und wann einen stärkeren Span abnahm. Nein, eine Wäschetruhe wurde das diesmal nicht, soviel stand fest.
»Was wird denn das, Otto?« fragte sie halb unwillig. Ihr war der seltsame Gedanke gekommen, daß er da irgendein Werkstück schnitzte, vielleicht einen Teil eines Bombenzünders. Aber so was auch nur zu denken, war Unsinn – was hatte Otto mit Bomben zu tun?! Außerdem konnte man wahrscheinlich Holz bei Bomben gar nicht verwenden. »Was wird denn das, Otto?« hatte sie also halb widerwillig gefragt.
Erst schien er wieder nur mit einem Knurren antworten zu wollen, aber vielleicht fiel ihm ein, daß er diesen Morgen seiner Anna schon ein bißchen viel zugemutet hatte, vielleicht war er aber auch einfach bereit, Auskunft zu geben.
»Kopf«, sagte er. »Will mal sehen, ob ich noch einen Kopf schnitzen kann. Habe früher viel Pfeifenköpfe geschnitzt.«
Und er drehte und schnippelte weiter.
Pfeifenköpfe! Anna stieß einen empörten Laut aus. Sie sagte jetzt doch sehr ärgerlich: »Pfeifenköpfe! Aber Otto! Besinn dich! Die Welt stürzt ein, und du denkst an Pfeifenköpfe! Wenn ich bloß so was höre!«
Er schien weder auf ihren Ärger noch auf ihre Worte groß zu achten. Er sagte: »Das wird natürlich kein Pfeifenkopf. Ich will mal sehen, ob ich unser Ottochen ein bißchen zurechtschnitzen kann, wie er ausgesehen hat!«
Sofort schlug ihre Stimmung um. Also an Ottochen dachte er, und wenn er an Ottochen dachte und seinen Kopf schnitzen wollte, so dachte er auch an sie und wollte ihr eine Freude damit machen. Sie stand von ihrem Stuhle auf und sagte, hastig die Kartoffelschüssel absetzend: »Warte, Otto, ich hole dir die Bilder, damit du auch weißt, wie Ottochen wirklich ausgesehen hat.«
Er schüttelte ablehnend den Kopf. »Ich will keine Bilder sehen«, sagte er. »Ich will den Otto schnitzen, wie ich ihn hier in mir drin habe.« Er tippte gegen seine hohe Stirn. Und nach einer Pause setzte er noch hinzu: »Wenn ich’s kann!«
Nun war sie wieder gerührt. Ottochen war also auch in ihm, er hatte ein festes Bild von dem Jungen. Jetzt war sie neugierig, wie dieser Kopf aussehen würde. »Sicher bringst du es fertig, Otto!« sagte sie.
»Na!« sagte er nur, aber es klang nicht einmal so zweifelnd wie zustimmend.
Damit war die Unterhaltung zwischen den beiden erst einmal beendet. Anna mußte in die Küche zurück zu ihrem Mittagessen, und sie ließ ihn da am Tisch, wie er langsam diesen Klotz Lindenholz zwischen seinen Fingern drehte und mit einer stillen, behutsamen Geduld Spänchen auf Spänchen von ihm abnahm.
Sie war dann aber doch sehr überrascht, als sie kurz vor dem Mittagessen zurückkam, um den Tisch zu decken, diesen Tisch schon aufgeräumt und mit seiner Decke geschmückt zu finden. Quangel stand am Fenster und sah in die Jablonskistraße hinunter, wo die spielenden Kinder lärmten.
»Na, Otto?« fragte sie. »Schon fertig mit der Schnitzerei?«
»Für heute ist Feierabend«, antwortete er, und im selben Augenblick wußte sie, daß diese Unterredung nun doch ganz nahe bevorstand, daß Otto doch etwas vorhatte, dieser unbegreiflich beharrliche Mann, den nichts dazu bringen konnte, etwas übereilt zu tun, der stets auf die richtige Stunde warten konnte.
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