Der Kommissar schlägt ihm wütend ins Gesicht: »Gottverdammter Trottel, ich reiß dir die Kaldaunen aus dem Leibe! Los, schnell!«
Und er stürzt aus dem Zimmer, läuft die Treppen hinunter …
»Auf den Hof doch!« ruft Friedrich flehend, während er hinterdreinläuft. »Sie ist bloß auf den Hof gefallen, nicht auf die Straße! Es wird gar kein Aufsehen geben, Herr Kommissar!«
Er bekommt keine Antwort. Alle drei laufen sie die Treppen hinunter, wobei sie sich bemühen, möglichst wenig Lärm in dem sonntagsstillen Haus zu machen. Als letzter läuft, mit einer halben Treppe Abstand, Baldur Persicke. Er hat nicht vergessen, die Wohnungstür der Rosenthals gut ins Schloß zu ziehen. Wenn ihm auch noch der Schreck in den Gliedern sitzt, weiß er doch, daß er jetzt die Verantwortung für alle die schönen Sachen dort hat. Da darf nichts fortkommen!
Die drei laufen an der Wohnung der Quangels vorbei, an der von den Persickes, an der vom Kammergerichtsrat a.D. Fromm. Nur noch zwei halbe Treppen, und sie sind auf dem Hof.
Otto Quangel war unterdes aufgestanden, hatte sich gewaschen und sah seiner Frau in der Küche zu, wie sie das Frühstück fertigmachte. Nach dem Frühstück würden sie miteinander sprechen, vorläufig hatten sie nur einen Guten-Morgen-Gruß gewechselt, aber einen freundlichen.
Plötzlich schrecken sie beide zusammen. In der Küche über ihnen ist Geschrei, sie lauschen, eines das andere gespannt und besorgt ansehend. Dann wird für Sekundenschnelle das Küchenfenster verdunkelt, etwas Schweres scheint vorbeizustürzen – und nun hören sie es schwer aufschlagen auf dem Hof. Unten schreit jemand auf – ein Mann. Und Totenstille.
Otto Quangel reißt das Küchenfenster auf, fährt aber zurück, als er Gepolter auf der Treppe hört.
»Steck du mal schnell den Kopf raus, Anna!« sagt er. »Sieh, ob du was sehen kannst. Eine Frau fällt bei so was weniger auf.« Er faßt sie bei der Schulter und drückt sie sehr stark. »Schrei nicht!« sagt er befehlend. »Du sollst nicht schreien! So, mach das Fenster wieder zu!«
»Gott, Otto!« ächzt Frau Quangel und starrt ihren Mann mit weißem Gesicht an. »Die Rosenthal ist aus dem Fenster gestürzt. Sie liegt unten auf dem Hof. Der Borkhausen steht bei ihr und …«
»Still!« sagt er. »Jetzt still! Wir wissen von nichts. Wir haben nichts gesehen und nichts gehört. Bring den Kaffee in die Stube!«
Und drinnen noch einmal, mit Nachdruck: »Wir wissen nichts, Anna. Haben die Rosenthal fast nie gesehen. Und nun iß! Iß, sage ich dir. Und trink Kaffee! Wenn einer kommt, er darf uns nichts anmerken!«
Der Kammergerichtsrat Fromm hatte noch immer auf seinem Beobachtungsposten gestanden. Er hatte zwei Zivilisten die Treppe hinaufgehen sehen, und nun stürmten drei Mann – und der Persicke-Junge dabei – die Treppe hinunter. Es hatte also etwas gegeben, und schon brachte ihm seine Bedienerin aus der Küche die Nachricht, daß eben Frau Rosenthal von oben auf den Hof gestürzt sei. Er starrte sie erschrocken an …
Einen Augenblick stand er ganz still. Dann nickte er langsam ein paarmal.
»Ja, Liese«, sagte er. »Das ist nicht anders. Man muß nicht nur retten wollen. Der andere muß auch mit der Rettung richtig einverstanden sein.« Und dann rasch: »Ist das Küchenfenster wieder zu?« Liese nickte. »Schnell, Liese, bring das Zimmer vom gnädigen Fräulein wieder in Ordnung; niemand darf sehen, daß es benutzt war. Geschirr weg! Wäsche weg!«
Wieder nickte Liese.
Dann fragte sie: »Und das Geld und der Schmuck auf dem Tisch, Herr Rat?«
Einen Augenblick stand er beinahe hilflos da, kläglich sah er aus mit dem ratlosen Lächeln auf dem Gesicht. »Ja, Liese«, sagte er dann. »Damit wird’s schwer werden. Erben werden sich wohl keine melden. Und für uns ist’s nur eine Last …«
»Ich tu’s in den Mülleimer«, schlug Liese vor.
Er schüttelte den Kopf. »Für Mülleimer sind die zu schlau, Liese«, sagte er dann. »Das können die ja gerade, im Müll rumwühlen! Na, ich werde schon sehen, wo ich damit erst einmal bleibe. Mach bloß schnell mit dem Zimmer! Die können jede Minute kommen!«
Vorläufig standen sie noch auf dem Hof, der Borkhausen bei ihnen.
Der Borkhausen hatte den Schreck zuerst abgekriegt, und am stärksten. Er war da seit dem frühen Morgen auf dem Hof herumgestrichen, gequält von seinem Haß auf die Persickes und seiner Gier nach den entschwundenen Sachen. Er wollte doch wenigstens wissen – und so beobachtete er ständig das Treppenhaus, die Fenster vorne …
Plötzlich war da etwas ganz dicht bei ihm niedergestürzt, so nah und aus großer Höhe, es hatte ihn gestreift. Der Schrecken war ihm derart in die Glieder gefahren, daß er sich gegen die Hofwand lehnte, und gleich darauf mußte er sich auf die Erde setzen, es wurde ihm schwarz vor den Augen.
Dann war er wieder hochgefahren, denn plötzlich hatte er gemerkt, daß er neben Frau Rosenthal auf dem Hofe saß. Gott, da hatte sich also die alte Frau aus dem Fenster gestürzt, und wer daran schuld war, das wußte er auch.
Borkhausen sah gleich, daß die Frau tot war. Ein bißchen Blut war aus ihrem Mund gelaufen, aber das verunstaltete sie kaum. Auf dem Gesicht lag ein solcher Ausdruck von tiefem Frieden, daß der erbärmliche kleine Spitzel wegsehen mußte. Dabei fiel sein Blick auf ihre Hände, und er sah, daß sie in der einen Hand etwas hielt, ein Schmuckstück, dessen Steine leuchteten.
Borkhausen warf einen argwöhnischen Blick um sich. Wenn er etwas tun wollte, mußte es schnell geschehen. Er bückte sich; von der Toten abgewandt, so daß er ihr nicht ins Gesicht sehen mußte, zog er ihr das Saphirarmband aus der Hand und ließ es in seiner Hosentasche verschwinden. Wieder sah er argwöhnisch um sich. Ihm war, als würde bei den Quangels das Küchenfenster vorsichtig geschlossen.
Und da kamen sie schon über den Hof gelaufen, drei Mann, und wer die zwei anderen waren, das sah er auch gleich. Nun kam es darauf an, daß er sich von Anfang an richtig benahm.
»Da hat sich eben die Frau Rosenthal aus dem Fenster gestürzt, Herr Kommissar«, sagte er, als melde er ein ganz alltägliches Ereignis. »Beinahe wäre mir die Frau auf den Kopf gefallen.«
»Woher kennen Sie mich denn?« fragte der Kommissar beiläufig, während er sich mit dem Friedrich über die Tote beugte.
»Ich kenn Sie nicht, Herr Kommissar«, sagte Borkhausen. »Ich hab’s mir bloß gedacht. Weil ich nämlich manchmal was für den Herrn Kommissar Escherich arbeiten darf.«
»So!« sagte der Kommissar nur. »So. Dann bleiben Sie hier noch mal ein bißchen stehen. Sie, junger Mann«, wandte er sich zu Persicke, »passen Sie mal ein bißchen auf, daß uns dieser Junge nicht verlorengeht. Friedrich, sorg dafür, daß keine Leute auf den Hof kommen. Sag dem Fahrer Bescheid, er soll in der Torfahrt aufpassen. Ich geh nur mal rasch in Ihre Wohnung telefonieren!«
Als der Herr Kommissar Rusch vom Telefonieren auf den Hof zurückkam, hatte sich die Lage dort ein wenig geändert. In den Fenstern des Hinterhauses lagen überall Gesichter, es standen auch ein paar Leute auf dem Hof – aber ferne. Die Leiche war jetzt mit einem Laken zugedeckt, das etwas zu kurz war, die Beine der Frau Rosenthal sahen bis zu den Knien darunter hervor.
Der Herr Borkhausen aber sah etwas gelb im Gesicht aus und trug jetzt Handkettlein. Von der Hofseite her beobachteten ihn schweigend seine Frau und die fünf Kinder.
»Herr Kommissar, ich protestiere dagegen!« rief Borkhausen jetzt jämmerlich. »Ich habe das Armband bestimmt nicht in die Kellerluke geworfen. Der junge Herr Persicke hat einen Haß auf mich …«
Es stellte sich heraus, daß Friedrich, von der Erledigung seiner Aufträge zurückgekehrt, sofort begonnen hatte, nach dem Armband zu suchen. Frau Rosenthal hatte es in der Küche doch noch in der Hand gehabt – gerade um dieses Armbandes willen, das sie durchaus nicht loslassen wollte, war ja ein gewisser Ärger bei Friedrich entstanden. Und in diesem Ärger hatte er nicht wie sonst aufgepaßt, und die Frau hatte ihm den Streich mit dem Fenster spielen können. Das Armband mußte also hier irgendwo auf dem Hof liegen.
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