Und sie ist auch geduldig geworden. Sie fängt an, sich dareinzudenken, daß dies ein langer Krieg wird. Es ist jetzt Ruhe in ihr, Otto hat alles bedacht, auf Otto ist Verlaß, immer und immer. Wie er alles überlegt hat! Die erste Karte in diesem Kriege, sie hat im gefallenen Sohne ihren Ursprung, sie spricht von ihm. Einmal hatten sie einen Sohn, der Führer hat ihn ermordet, jetzt schreiben sie Karten. Ein neuer Lebensabschnitt. Äußerlich hat sich nichts geändert. Ruhe um die Quangels. Innerlich ist alles ganz anders geworden, da ist Krieg …
Sie holt sich ihren Stopfkorb und fängt an, Strümpfe zu stopfen. Ab und zu sieht sie zu Otto hinüber, der langsam, ohne je das Tempo zu beschleunigen, seine Buchstaben malt. Fast nach jedem Buchstaben hält er die Karte in Armeslänge vor sich und betrachtet sie mit eingekniffenen Augen. Dann nickt er.
Schließlich zeigt er ihr diesen ersten fertigen Satz. Er nimmt anderthalb sehr große Zeilen der Karte ein.
Sie sagt: »Du wirst nicht viel heraufbekommen auf so eine Karte!«
Er antwortet: »Ganz egal! Ich werde noch viele solche Karten schreiben!«
»Und solche Karte dauert lange.«
»Ich werde eine, später vielleicht zwei Karten an einem Sonntag schreiben. Der Krieg ist noch nicht zu Ende, das Morden geht immer weiter.«
Er ist nicht zu erschüttern. Er hat seinen Entschluß gefaßt, und er wird nach diesem Entschluß handeln. Nichts kann ihn umstoßen, niemand wird Otto Quangel auf seinem Wege Halt gebieten.
Er sagt: »Der zweite Satz: ›Mutter! Der Führer wird auch deine Söhne ermorden, er wird noch nicht aufhören, wenn er Trauer in jedes Haus auf der Welt gebracht hat‹ …«
Sie wiederholt: »Mutter, der Führer wird auch deine Söhne ermorden!«
Sie nickt, sie sagt: »Das schreib!« Sie überlegt: »Man müßte diese Karte dorthin legen, wohin Frauen kommen!«
Er denkt nach, dann schüttelt er den Kopf: »Nein. Bei Frauen, die einen Schreck bekommen, weiß man nie, was sie tun. Ein Mann wird solche Karte schnell in die Tasche stecken, auf der Treppe. Später wird er sie dann gründlich lesen. Außerdem: Alle Männer sind Söhne von Müttern.«
Er schweigt wieder, er fängt von neuem mit Malen an. Der Nachmittag vergeht, sie denken nicht an das Vesperbrot. Schließlich, der Abend ist da, wird auch die Karte fertig. Er steht auf. Er sieht sie noch einmal an.
»So!« sagt er. »Das wäre geschafft. Nächsten Sonntag die zweite.«
Sie nickt.
»Wann trägst du sie weg?« flüstert sie.
Er sieht sie an. »Morgen vormittag.«
Sie bittet: »Laß mich dabeisein, dieses erste Mal!«
Er schüttelt den Kopf. »Nein«, sagt er. »Gerade das erste Mal nicht. Ich muß erst sehen, wie das läuft.«
»Doch!« bittet sie. »Es ist meine Karte! Es ist die Karte von der Mutter!«
»Gut!« entscheidet er. »Komm mit. Aber nur bis ans Haus. Drinnen will ich allein sein.«
»Es ist recht.«
Dann ist die Karte vorsichtig in ein Buch geschoben, das Schreibzeug verwahrt, sind die Handschuhe in seine Joppe gesteckt.
Sie essen zu Abend, sie sprechen kaum. Aber sie merken gar nicht, daß sie so schweigsam sind, auch Anna nicht. Beide sind müde, ganz als hätten sie eine schwere Arbeit hinter sich oder als sei eine weite Reise getan.
Er sagt, vom Essen aufstehend: »Ich lege mich dann gleich hin.«
Und sie: »Ich mach bloß noch die Küche. Dann komm ich auch. Gott, wie müde ich bin, und wir haben doch nichts getan!«
Er sieht sie mit einem halben Lächeln an, dann geht er schnell in die Schlafstube und fängt an, sich auszuziehen.
Aber dann, als sie beide liegen, als es dunkel ist, können sie beide nicht einschlafen. Sie wälzen sich hin und her, sie horchen auf den Atem des andern, und schließlich fangen sie an zu reden. In der Dunkelheit spricht es sich besser.
»Was meinst du«, fragt Anna, »was mit unsern Karten geschieht?«
»Alle werden zuerst einen Schreck bekommen, wenn sie diese Karten daliegen sehen und die ersten Worte lesen. Alle haben doch heute Angst.«
»Ja«, sagt sie. »Alle …«
Aber sie nimmt sie beide, die Quangels, aus. Fast alle haben Angst, denkt sie. Wir nicht.
»Die Finder«, wiederholt er hundertmal Durchdachtes, »werden Angst haben, daß sie auf der Treppe beobachtet worden sind. Sie werden die Karte schnell fortstecken und weglaufen. Oder sie legen sie auch wieder hin und verdrücken sich, und der nächste kommt …«
»So wird es sein«, sagt Anna, und sie sieht das Treppenhaus vor sich, irgend solch ein Berliner Treppenhaus, schlecht beleuchtet, und jeder, der eine solche Karte in der Hand hat, wird sich plötzlich fühlen, als sei er ein Verbrecher. Weil eigentlich jeder denkt wie dieser Kartenschreiber und doch nicht so denken darf, weil Tod auf solchem Denken steht …
»Manche«, fährt Quangel fort, »werden die Karte auch sofort abgeben, an den Blockwart oder die Polizei: nur schnell fort mit ihr! Aber auch das macht nichts aus, ob in der Partei oder nicht, ob politischer Leiter oder Polizei, sie alle werden die Karte lesen, sie wird Wirkung in ihnen tun. Und wenn sie nur die eine Wirkung tut, daß sie wieder einmal erfahren, es ist noch Widerstand da, nicht alle folgen diesem Führer …«
»Nein«, sagt sie. »Nicht alle. Wir nicht.«
»Und es werden mehr werden, Anna. Durch uns werden es mehr werden. Vielleicht bringen wir andere auf den Gedanken, solche Karten zu schreiben, wie ich es tue. Schließlich werden Dutzende, Hunderte sitzen wie ich und schreiben. Wir werden Berlin mit diesen Karten überschwemmen, wir werden den Gang der Maschinen hemmen, wir werden den Führer stürzen, den Krieg beenden …«
Er hält inne, bestürzt von seinen eigenen Worten, von diesen Träumen, die sein kühles Herz so spät noch aufsuchen.
Aber Anna Quangel sagt, begeistert von dieser Vision: »Und wir werden die ersten gewesen sein! Niemand wird es wissen, aber wir wissen es.«
Er sagt plötzlich nüchtern: »Vielleicht denken schon viele so wie wir, Tausende von Männern müssen schon gefallen sein. Vielleicht gibt es schon solche Kartenschreiber. Aber das ist egal, Anna! Was geht es uns an? Wir tun dies!«
»Ja«, sagt sie.
Und er, noch einmal hingerissen von den Aussichten des begonnenen Unternehmens: »Und wir werden die Polizei in Gang setzen, die Gestapo, die SS, die SA. Überall wird man von dem geheimnisvollen Kartenschreiber sprechen, sie werden fahnden, verdächtigen, beobachten, Haussuchungen machen – vergeblich! Wir schreiben weiter, immer weiter!«
Und sie: »Vielleicht werden sie dem Führer selbst solche Karten vorlegen – er selbst wird sie lesen, wir klagen ihn an! Er wird toben! Er soll doch immer gleich toben, wenn was nicht nach seinem Willen geht. Er wird befehlen, uns zu finden, und sie werden uns nicht finden! Er wird weiter unsere Anklagen lesen müssen!«
Sie schweigen beide, beide geblendet von diesem Ausblick. Was waren sie eben noch? Unbekannte Existenzen; im großen, dunklen Gewimmel hatten sie mitgewimmelt. Und nun sind sie beide ganz allein, getrennt, erhoben vor den andern, mit keinem von ihnen zu verwechseln. Es ist Eiseskälte um sie, so allein sind sie.
Und Quangel sieht sich in der Werkstatt stehen, wie immer im gleichen Getriebe, treibend und getrieben, den Kopf achtsam, ruckweise von Maschine zu Maschine gedreht. Für die wird er immer der olle doofe Quangel sein, nur von seiner Arbeit und seinem schmutzigen Geiz besessen. In seinem Kopf aber hat er Gedanken, wie sie keiner von ihnen hat. Jeder von ihnen würde vor Angst umkommen, wenn er solche Gedanken hätte. Er aber, der dußlige olle Quangel, er hat sie. Er steht da und täuscht sie alle.
Anna Quangel aber denkt jetzt an den Weg, den sie morgen beide gehen werden, die erste Karte fortzubringen. Sie ist etwas unzufrieden mit sich, daß sie nicht darauf bestanden hat, mit Quangel ins Haus hineinzugehen. Sie überlegt, ob sie ihn nicht noch einmal darum bitten soll. Vielleicht. Im allgemeinen ist Otto Quangel durch Bitten nicht umzustimmen. Aber vielleicht heute abend, da er so ungewöhnlich heiterer Laune zu sein scheint? Vielleicht gleich jetzt?
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