Jetzt hatte der Schauspieler Harteisen wirklich Butter auf dem Kopf. Aber er ließ nicht nach, er bohrte und fragte, er wollte um jeden Preis erfahren, ob diese vernichtenden Urteile wirklich vom Führer ausgingen, oder ob sie sich der kleine Mann nur ausgedacht hatte, um einen Feind zu erledigen. Und an diesem Montag war Harteisen nun völlig siegesgewiß zu seinem Anwalt Toll gestürzt und hatte gerufen: »Ich hab’s! Ich hab’s, Erwin! Der Schurke hat gelogen. Der Führer hat den Film, in dem ich den preußischen Offizier spiele, überhaupt nicht gesehen, und er hat nie ein Wort gegen mich geäußert.«
Und er berichtete eifrig, daß diese Nachricht ganz gewiß sei, denn sie stamme von Göring selbst. Eine Freundin seiner Frau habe eine Tante, und deren Kusine sei zu Görings nach Carinhall eingeladen gewesen. Da habe sie den Fall zur Sprache gebracht, und Göring habe sich wie berichtet geäußert.
Der Anwalt sah den Aufgeregten ein wenig spöttisch an. »Nun, Max, und was ist dadurch geändert?«
Der Schauspieler murmelte ganz verdutzt: »Aber dieser Goebbels hat doch gelogen, Erwin!«
»Und? Hast du je geglaubt, alles, was Hinkebeinchen sagt, sei wahr?«
»Nein, das natürlich nicht. Aber wenn man den Fall vor den Führer bringt … Er hat doch den Namen des Führers mißbraucht!«
»Ja, und weil er das getan hat, wird der Führer einen alten Parteigenossen und Propami rausschmeißen, bloß weil er dem Harteisen Kummer gemacht hat!«
Der Schauspieler sah den überlegenen, spöttischen Anwalt hilfeflehend an. »Aber es muß doch was geschehen in meiner Sache, Erwin!« sagte er. »Ich will doch arbeiten! Und der Goebbels hindert mich zu Unrecht daran!«
»Ja«, sagte der Anwalt. »Ja!« Und schwieg wieder. Als aber Harteisen ihn so erwartungsvoll ansah, fuhr er fort: »Du bist ein Kind, Max, ein richtiges, groß gewordenes Kind!«
Der Schauspieler, der stets viel von seiner Weitläufigkeit gehalten hatte, warf unmutig den Kopf zurück.
»Wir sind ja hier unter uns, Max«, fuhr der Anwalt fort, »diese Tür ist gut gepolstert, wir können also offen miteinander sprechen. Du wußtest doch auch, wenigstens ein ganz klein bißchen, wieviel schreiendes, blutiges, herzzerreißendes Unrecht heute in Deutschland geschieht – und kein Hahn kräht danach. Im Gegenteil, sie rühmen sich noch laut ihrer Schande. Aber weil der Schauspieler Harteisen ein ganz kleines Wehwehchen hat, entdeckt er plötzlich, daß Unrecht in der Welt geschieht, und schreit nach Gerechtigkeit, Max!«
Harteisen sagte niedergedrückt: »Aber was soll ich denn tun, Erwin? Es muß doch etwas geschehen!«
»Was du tun sollst? Nun, das ist doch ganz klar! Du ziehst dich mit deiner Frau an einen hübschen Ort auf dem Lande zurück und hältst dich fein stille. Vor allem hörst du mit diesem unsinnigen Gerede über ›deinen‹ Minister auf und unterläßt die Verbreitung des Göring-Interviews. Sonst kann es geschehen, daß dir der Minister noch etwas ganz anderes antut.«
»Aber wie lange soll ich denn da tatenlos auf dem Lande sitzen?«
»Die Launen eines Ministers kommen und gehen. Sie gehen auch, Max, sei sicher. Eines Tages wirst du wieder in Glanz und floribus sein.«
Der Schauspieler schauderte. »Nicht das!« bat er. »Nur nicht das!« Er stand auf. »Und du meinst wirklich nicht, daß du in meiner Sache etwas tun kannst?«
»Nicht das geringste!« meinte der Anwalt lächelnd. »Es sei denn, du hättest den Wunsch, als Märtyrer für deinen Minister ins KZ zu gehen.«
Drei Minuten darauf stand der Schauspieler Max Harteisen im Treppenhaus des Bürogebäudes und hielt verwirrt eine Karte in der Hand: »Mutter! Der Führer hat mir meinen Sohn ermordet …«
Um des Himmels willen! dachte er. Welcher Mensch schreibt denn so was? Er muß wahnsinnig sein! Er schreibt sich ja um seinen Kopf! Unwillkürlich drehte er die Karte um. Aber dort stand kein Absender oder Empfänger, sondern: »Gebt diese Karte weiter, daß viele sie lesen! – Stiftet nichts für das Winterhilfswerk! – Arbeitet langsam, noch langsamer! Tut Sand in die Maschinen! Jeder Handschlag weniger getan hilft diesen Krieg früher beenden!«
Der Schauspieler sah hoch. Lichterglänzend fuhr der Fahrstuhl an ihm vorbei. Er hatte das Gefühl, daß viele Augen auf ihn sahen.
Rasch steckte er die Karte in die Tasche, und rascher noch riß er sie wieder hervor. Er wollte sie schon auf die Fensterbank zurücklegen – und Bedenken überkamen ihn. Vielleicht hatten ihn die vom Fahrstuhl aus hier stehen sehen, die Karte in der Hand – und sein Gesicht kannten viele. Die Karte wurde gefunden, es fanden sich welche, die beeideten, er habe sie hingelegt. Er hatte sie ja wirklich hingelegt, wieder hingelegt, hieß das. Aber wer würde ihm glauben, gerade jetzt, wo er diesen Streit mit dem Minister hatte? Er hatte so viel Butter auf dem Kopfe, und nun dies noch!
Schweiß trat auf seine Stirn, plötzlich begriff er, daß nicht nur der Kartenschreiber, daß auch er in naher Lebensgefahr war, er vielleicht am meisten. Seine Hand zuckte; er wollte die Karte hinlegen, er wollte sie doch lieber fortnehmen, er wollte sie zerreißen, hier an Ort und Stelle … Aber vielleicht stand einer oben auf der Treppe und beobachtete ihn? Er hatte in den letzten Tagen schon ein paarmal das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden, er hatte es für Nervosität gehalten, wegen dieser Gehässigkeit von Minister Goebbels …
Und vielleicht war das Ganze eine Falle dieses Mannes, für ihn zurechtgebaut, daß er sich ganz gründlich fing? Um aller Welt zu beweisen, wie recht der Minister mit der Beurteilung des Schauspielers Harteisen hatte? O Gott, er war ja schon wahnsinnig, er sah Gespenster! Das tat doch ein Minister nicht! Oder tat er gerade das?
Aber er konnte hier nicht ewig stehenbleiben. Er mußte sich entschließen; er hatte jetzt keine Zeit, an Goebbels zu denken, er mußte nur an sich denken!
Er stürmt die halbe Treppe wieder hinauf, niemand steht dort und beobachtet ihn. Aber er klingelt schon beim Rechtsanwalt Toll. Er stürmt an der Vorzimmerdame vorbei, er knallt die Karte auf den Tisch des Anwalts, er ruft: »Da! Was ich hier eben im Treppenhaus gefunden habe!«
Der Anwalt wirft nur einen kurzen Blick auf die Karte. Dann steht er auf und schließt sorgfältig die Doppeltür seines Büros, die der Aufgeregte offengelassen hat. Er kehrt zu seinem Schreibtischplatz zurück. Er nimmt die Karte wieder auf und liest sie lange und sorgfältig, während Harteisen auf und ab läuft und ungeduldig Blicke auf ihn wirft.
Jetzt läßt Toll die Karte sinken und fragt: »Wo, sagtest du, hast du die Karte gefunden?«
»Hier auf der Treppe, eine halbe Treppe tiefer.«
»Auf der Treppe! Auf den Stufen also?«
»Sei nicht so wortklauberisch, Erwin! Nein, nicht auf den Stufen, sondern auf der Fensterbank!«
»Und darf ich dich fragen, warum du mir dieses reizende Angebinde auf mein Büro schleppen mußtest?«
Die Stimme des Anwalts klingt schärfer, der Schauspieler sagt bittend: »Aber was sollte ich denn tun? Die Karte lag da, ich habe sie ganz gedankenlos aufgenommen.«
»Und warum hast du sie nicht zurückgelegt? Das wäre doch das Selbstverständlichste gewesen!«
»Ein Fahrstuhl fuhr an mir vorbei, während ich las. Ich hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Mein Gesicht ist so bekannt.«
»Noch besser!« sagte der Anwalt bitter. »Und dann bist du vermutlich mit dieser Karte offen in der Hand zu mir gelaufen?« Der Schauspieler nickte düster. »Nein, mein Freund«, sagte Toll entschlossen und hielt ihm die Karte wieder hin, »bitte, nimm sie wieder. Ich will damit nichts zu schaffen haben. Wohlgemerkt, du kannst dich nicht auf mich berufen. Ich habe diese Karte nie gesehen. Nimm sie doch endlich wieder!«
Harteisen starrte den Freund mit blassem Gesicht an. »Ich denke«, sagte er dann, »du bist nicht nur mein Freund, du bist auch mein Anwalt, du nimmst meine Interessen wahr!«
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