Herr Lehmann legt den Bleistift lang hin. »Wir stellen niemanden ein«, sagt er entschieden. Und wartet.
Herr Lehmann ist ein sehr geduldiger Mensch. Er wartet immer noch. Und schließlich sagt er und stellt den Bleistift wieder aufrecht: »Und was ist noch?«
»Vielleicht später …?« stammelt Pinneberg.
»Bei so ’ner Konjunktur!« sagt Herr Lehmann wegwerfend.
Stille.
Also kann ich gehen. Wieder reingerasselt. Armes Lämmchen! denkt Pinneberg. Er will Adieu sagen. Da sagt Herr Lehmann: »Zeigen Sie mal Ihre Zeugnisse her.«
Pinneberg breitet sie hin, seine Hand zittert ganz ehrlich, er hat ganz ehrlich Angst. Was Herr Lehmann hat, das weiß man nicht, aber Warenhaus Mandel hat auch an die tausend Angestellte, und Herr Lehmann ist der Personalchef, also ein großer Mann. Vielleicht hat Herr Lehmann Spaß.
Also Pinneberg breitet zitternd seine Zeugnisse aus: das Lehrzeugnis, dann das von Wendheim, dann das von Bergmann, dann das von Kleinholz.
Die Zeugnisse sind alle sehr gut. Herr Lehmann liest sie sehr langsam, sehr ungerührt. Dann schaut er hoch, er scheint nachzudenken. Vielleicht, vielleicht …
Herr Lehmann spricht: »Tja, Düngemittel führen wir nicht.«
So, da hat er es! Und natürlich ist Pinneberg nichts wie ein Trottel, er kann nur stammeln: »Ich dachte auch … eigentlich Herrenkonfektion … das war nur zur Aushilfe …«
Lehmann genießt es. Es ist so gut, daß er wiederholt: »Nein, Düngemittel führen wir nicht.« Er setzt hinzu: »Auch nicht Kartoffeln.«
Er könnte ja nun auch von Getreide und Sämereien reden, all das steht auf Emil Kleinholzens Briefbogen, aber schon die Kartoffeln kamen nicht mehr ganz befriedigend heraus. So sagt er nur brummig: »Wo haben Sie denn Ihre Angestelltenversicherungskarte?«
Was soll das alles? denkt Pinneberg. Wozu will er meine Karte? Will er mich nur quälen? Und er legt die grüne Karte hin.
Herr Lehmann betrachtet sie lange, die Marken sieht er an, er nickt ein wenig.
»Und Ihre Lohnsteuerkarte?«
Pinneberg gibt auch die hin, und auch sie wird genau angesehen. Dann ist wieder eine Pause, damit Pinneberg hoffen darf und verzweifelt sein darf und wieder hoffen darf.
»Also«, sagt Herr Lehmann abschließend und legt die Hand auf die Papiere. »Also wir stellen keine neuen Kräfte ein. Wir dürfen es gar nicht. Denn wir bauen die alten ab!«
Schluß. Aus damit. Dies war das Endgültige. Aber Herrn Lehmanns Hand bleibt auf den Papieren liegen, nun legt er sogar noch den gelben Mammutbleistift über sie.
»Immerhin …«, sagt Herr Lehmann. »Immerhin dürfen wir Kräfte aus unsern Filialen übernehmen. Besonders tüchtige Kräfte. Sie sind doch eine tüchtige Kraft?«
Pinneberg flüstert etwas. Keinen Protest. Es genügt Herrn Lehmann aber.
»Sie, Herr Pinneberg, werden aus unserer Filiale in Breslau übernommen. Sie kommen aus Breslau, nicht wahr?«
Wieder Flüstern, wieder ist Herr Lehmann genügsam.
»Auf der Abteilung Herrenkonfektion, wo Sie arbeiten werden, stammt zufällig keiner der Herren aus Breslau, nicht wahr?«
Pinneberg murmelt.
»Gut. Sie fangen morgen früh an. Sie melden sich um acht Uhr dreißig bei Fräulein Semmler, hier nebenan. Sie unterschreiben dann den Vertrag und die Hausordnung, und Fräulein Semmler sagt Ihnen Bescheid. Guten Morgen.«
»Guten Morgen«, sagt auch Pinneberg und verbeugt sich. Er geht rückwärts zur Tür. Schon hat er die Klinke in der Hand, da flüstert Herr Lehmann, er flüstert es durch das ganze Gemach: »Grüßen Sie Ihren Herrn Vater bestens. Sagen Sie Ihrem Herrn Vater, ich habe Sie engagiert. Sagen Sie Holger, am Mittwochabend wäre ich frei. Guten Morgen, Herr Pinneberg.«
Und ohne diese Schlußsätze hätte Pinneberg gar nicht gewußt, daß Herr Lehmann auch lächeln kann, etwas verkniffen, aber immerhin lächeln.
Pinneberg geht durch den Kleinen Tiergarten, hat Angst und kann sich nicht freuen
Pinneberg steht wieder auf der Straße. Er ist müde, er ist so müde, als hätte er den ganzen Tag über seine Kraft gearbeitet, als wäre er in Lebensgefahr gewesen und gerade noch gerettet, als hätte er einen Schock gehabt. Die Nerven haben geschrien und gezerrt, und nun sind sie schlapp, geben nichts mehr her. Pinneberg setzt sich ganz langsam in Bewegung und tüffelt nach Haus.
Es ist ein richtiger Herbsttag, in Ducherow würde sehr viel Wind sein, ein stetiger Wind, aus einer Richtung. Hier in Berlin ist ein Krüselwind, um die Ecken rum, bald so, bald so, mit eiligen Wolken, zu denen man nicht hochsieht, und ab und an ein wenig Sonne. Das Pflaster ist naß und trocken, aber es wird schon wieder ganz naß sein, ehe es ganz trocken geworden ist.
Also jetzt hat Pinneberg einen Vater, einen richtigen Vater. Und da der Vater Jachmann heißt und der Sohn Pinneberg, ist der Sohn ein uneheliches Kind. Aber bei Herrn Lehmann hat ihm das sicher nur genützt. Pinneberg kann es sich sehr gut vorstellen, wie Jachmann dem Lehmann diese Jugendsünde versetzt hat, der ganze Lehmann sieht wie ein oller Bock aus. Und nun, wegen so was, wegen so einem Gewaltekel von Jachmann, hat man noch mal wieder Massel gehabt, ist aus Breslau, aus der Filiale gekommen und hat eine Stellung geschnappt. Zeugnisse nützen nichts. Tüchtigkeit nützt nichts. Anständig aussehen nützt nichts, Demut nützt nichts – aber so ein Kerl wie der Jachmann, der nützt!
Nun also, was ist er schon?
Was ist das gestern abend in der Wohnung gewesen? Gelächter und Gejohle, gesoffen haben die sicher. Lämmchen und der Junge haben in ihrem Fürstenbett gelegen, sie haben getan, als hörten sie nichts. Davon gesprochen haben sie nicht, immerhin ist es seine Mutter, aber koscher, koscher ist der Laden nicht.
Seht, Pinneberg ist mal nach hinten gegangen, das Klo liegt hinten, man muß zu ihm durch das Berliner Zimmer, denn Pinnebergs wohnen vorn. Nun, es ist wirklich ganz gemütlich in diesem Berliner Zimmer, wenn nur die Pilzlampe brennt, und die ganze Gesellschaft sitzt auf den beiden großen Couches. Diese Damen, sehr jung, sehr elegant, furchtbar fein, und diese Holländer, eigentlich müßten Holländer blond und dick sein, die aber waren schwarz und lang gewesen. Und das alles saß da herum und trank Wein und rauchte. Und Holger Jachmann lief natürlich in Hemdsärmeln auf und ab und sagte gerade: »Nina, haben Sie sich bloß nicht. Anstellerei kotzt mich an.« Und das klang gar nicht so freundlich jovial wie sonst alles von Jachmann.
Und zwischen alledem Frau Mia Pinneberg. Nun gut, sie war nicht so sehr aus dem Rahmen gefallen, sie hatte wunderschön aufgelegt und nur ein ganz, ganz klein wenig älter ausgesehen als die jungen Mädchen. Sie hatte mitgemacht, daran war kein Zweifel, aber was taten sie nun die ganze Nacht bis vier? Schön, es war stundenlang still gewesen, nur ein leichtes Gemurmel aus der Ferne, und dann plötzlich wieder eine Viertelstunde diese Ausbrüche von Fröhlichkeit. Gut, Ecarté-Karten, sie spielten also Karten, sie spielten Karten als Geschäft, mit zwei jungen gemalten Mädchen, Claire und Nina, und drei Holländern, für die eigentlich Müllensiefen noch hätte bestellt werden müssen, aber schließlich reichten Jachmanns Künste auch aus. Klar, Pinneberg! Ja, so ist es, trotzdem natürlich alles auch ganz anders sein kann …
Wieso anders? Wenn Pinneberg jemanden kennt, so ist es doch seine Mutter. Nicht umsonst wird sie wild, wenn er nur mit der Bar antippt von damals. Es ist ja doch anders gewesen mit dieser Bar, es ist nicht zehn Jahre her gewesen, es ist fünf Jahre her, und er hat nicht nur durch den Vorhang gesehen, er hat schön an einem Tisch gesessen und drei Tische weiter Frau Mia Pinneberg. Aber gesehen hat sie ihn nicht, so weit war sie schon. Aufsicht an einer Bar – sie hätte selbst Aufsicht gebraucht, und wenn sie am Anfang nicht alles ableugnen konnte, sondern von einer Geburtstagsfeier faselte, so war später auch diese Feier, mit all ihrer Dunität und Knutscherei, vergessen, versunken, verleugnet – er hatte nur durch den Vorhang gesehen, und seine Mutter hatte brav und solide als Aufsicht hinter der Bar gestanden. So war es damals gewesen – und was war danach heute zu erwarten?
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